Zinspoker, Zollkrieg und Zwei-Klassen-Europa
Zinspoker, Zollkrieg und Zwei-Klassen-Europa
Liebe Leserinnen und Leser,
während sich die Staats- und Regierungschefs in Brüssel die Köpfe über russisches Geld heiß redeten, spielte sich an den Finanzmärkten ein faszinierendes Schauspiel ab: Die Notenbanken pokern, Trump verschreckt Kanada mit einem Twitter-Wutanfall, und Deutschland überrascht mit unerwartet starkem Wachstum. Doch der Reihe nach.
EZB vs. Bank of Japan: Das große Zins-Dilemma
Die Europäische Zentralbank hat sich in eine verzwickte Lage manövriert. Während die US-Notenbank Fed ihre Zinsen konstant hält und damit den Dollar stärkt, kämpft die EZB mit der Quadratur des Kreises: Die Inflation bekämpfen, ohne die schwächelnde Konjunktur abzuwürgen.
Besonders pikant wird es beim Blick nach Japan. Die Bank of Japan steht nächste Woche vor einer historischen Entscheidung: Erhöht sie die Zinsen von 0,5% weiter, oder beugt sie sich dem Druck der neuen Premierministerin Sanae Takaichi? Die Dame hat klare Vorstellungen: Die Notenbank solle gefälligst kooperieren, um eine von Lohnsteigerungen getriebene Inflation zu erreichen. Klingt nach einem Traum für Arbeitnehmer, ist aber ein Albtraum für Zentralbanker.
Was bedeutet das für uns? Ein schwächerer Yen macht japanische Exporte billiger - schlechte Nachrichten für deutsche Maschinenbauer, die in Asien mit japanischen Konkurrenten kämpfen. Gleichzeitig könnte eine zu vorsichtige Bank of Japan die globalen Inflationssorgen neu entfachen. US-Finanzminister Scott Bessent, der kommende Woche in Tokio weilt, wird Klartext reden: Washington will einen stärkeren Yen. Die Zeiten, in denen Japan seine Währung beliebig schwächen konnte, sind vorbei.
Trump stoppt Kanada-Gespräche: Ein Werbeclip als Kriegserklärung
Man stelle sich vor: Angela Merkel hätte 2018 die Handelsgespräche mit den USA gestoppt, weil ein bayerisches Werbevideo Kennedy zitierte. Absurd? Genau das hat Donald Trump gerade mit Kanada gemacht.
Der Auslöser: Die Provinz Ontario wagte es, in einem Anti-Zoll-Werbespot Ronald Reagan zu zitieren. Reagans Stimme warnt vor den Gefahren von Handelskriegen - eine Botschaft, die Trump als "ungeheuerliches Verhalten" brandmarkt. Die 35-Prozent-Zölle auf kanadische Importe bleiben, die Gespräche sind tot.
Für europäische Unternehmen ist das ein Warnsignal. Wenn schon das Nachbarland Kanada so behandelt wird, was erwartet dann erst die EU? Die Automobilindustrie, die sowohl in Kanada als auch in den USA produziert, sieht sich mit einem fragmentierten nordamerikanischen Markt konfrontiert. Volkswagen in Chattanooga, Mercedes in Alabama - sie alle müssen ihre Lieferketten überdenken.
Uniper-Schock: Wenn 70% Gewinnrückgang zur Normalität wird
Die Energiewende hat ihren Preis, und Uniper präsentiert jetzt die Rechnung. Das bereinigte EBITDA stürzt auf 641 Millionen Euro ab - ein Minus von 70% gegenüber dem Vorjahr. CEO Michael Lewis versucht zu beruhigen: Der Jahresausblick bleibe bestätigt.
Doch die Zahlen erzählen eine andere Geschichte. Die goldenen Zeiten der Gasersatzbeschaffung sind vorbei, die Optimierungsgewinne aus der Vergangenheit abgeschöpft. Was bleibt, ist die harte Realität eines Energiemarktes im Umbruch. Für Anleger bedeutet das: Die Sondergewinne der Energiekrise sind Geschichte. Jetzt müssen Unternehmen wie Uniper beweisen, dass ihr Geschäftsmodell auch ohne Krisenmodus funktioniert.
Deutschland überrascht: Der heimliche Wachstumsstar
Während alle auf die Rezession warten, liefert Deutschland unerwartet positive Signale. Der Einkaufsmanagerindex springt auf 53,8 Punkte - der höchste Wert seit zweieinhalb Jahren. Besonders der Dienstleistungssektor brummt, aber selbst die kriselnde Industrie zeigt Lebenszeichen.
Hamburg Commercial Bank-Chefvolkswirt Cyrus de la Rubia spricht von einem "unerwartet guten Start ins vierte Quartal", warnt aber: Die Lage bleibt fragil. Tatsächlich entlassen Industrieunternehmen weiter Mitarbeiter, während Dienstleister einstellen. Deutschland entwickelt sich zur Zwei-Klassen-Wirtschaft.
Die wahre Überraschung verbirgt sich in den Details: Zum ersten Mal seit Juli 2022 steigen die Auftragsbestände. Unternehmen kommen mit der Abarbeitung nicht mehr hinterher. Das klingt nach Hochkonjunktur, ist aber trügerisch. Viele Firmen haben in der Krise Personal abgebaut und finden jetzt keine Fachkräfte. Der Aufschwung wird durch den eigenen Pessimismus gebremst.
Russlands Milliarden: Belgiens Blockade blamiert Brüssel
140 Milliarden Euro eingefrorenes russisches Vermögen liegen in Brüssel - theoretisch. Praktisch hat Belgien gerade den großen EU-Plan torpediert. Premier Bart De Wever will Garantien: Was, wenn Russland zurückschlägt? Was, wenn europäische Unternehmen in Russland enteignet werden?
Die Deutsch-Russische Handelskammer warnt vor Verlusten von 100 Milliarden Euro für deutsche Firmen. Das ist kein Panikmachen, sondern bittere Realität. Hunderte deutscher Unternehmen haben noch immer Vermögen in Russland - von Produktionsanlagen bis zu Immobilien.
Merz behauptete nach dem Gipfel vollmundig, die Sache sei "erledigt". Costa und Macron widersprachen umgehend. Die Wahrheit: Die EU hat sich wieder einmal verzettelt. Während Selenskyj dringend Geld braucht, streiten die Europäer über Haftungsfragen. Der Showdown kommt im Dezember. Bis dahin muss die Ukraine mit Versprechen leben - und hoffen, dass der Winter mild wird.
Der Blick voraus
Die kommende Woche wird spannend: Die Bank of Japan entscheidet über ihre Zinsen, die EZB-Banker treffen sich zu informellen Gesprächen in Frankfurt, und in London berät die "Koalition der Willigen" über weitere Ukraine-Hilfen. Gleichzeitig beginnt in Kuala Lumpur der ASEAN-Gipfel, wo sich Trump und Chinas Premier Li Qiang die erste Runde im Handelskrieg liefern werden.
Was lernen wir aus all dem? Die Weltwirtschaft ist im Umbruch. Alte Gewissheiten gelten nicht mehr, neue Allianzen entstehen. Europa muss seinen Platz in dieser neuen Ordnung erst noch finden. Zwischen amerikanischem Protektionismus und asiatischer Dynamik droht der alte Kontinent zerrieben zu werden - es sei denn, wir finden endlich zu gemeinsamer Stärke.
Die Frage ist nicht, ob sich die Welt verändert. Die Frage ist, ob Europa mitgestaltet oder nur zuschaut.
Bleiben Sie kritisch, bleiben Sie informiert.
Ihr Eduard Altmann
P.S.: Die Mercosur-Verwirrung beim EU-Gipfel - erst verkündet Merz die Einigung, dann rudert Costa zurück - zeigt exemplarisch Europas Kommunikationsproblem. Wenn wir nicht einmal untereinander klarkommt, wie sollen wir dann mit Trump verhandeln?
Anzeige: Apropos technologische Allianzen – während sich Regierungen um Zölle und Sanktionen streiten, entsteht im Hintergrund der nächste weltweite Wachstumszyklus: der Kampf um Halbleitertechnologie. Chips sind längst das "neue Öl" der globalen Ökonomie. Wenn Sie verstehen möchten, welche europäischen Unternehmen zu den Profiteuren dieser Entwicklung zählen könnten, finden Sie die entsprechende Analyse hier: Zum Hintergrundbericht „Die neue Nvidia – Europas Antwort auf den Chip-Boom“.








