Zinspoker und Zollpoker: Wenn Unsicherheit zur neuen Normalität wird
Zinspoker und Zollpoker: Wenn Unsicherheit zur neuen Normalität wird
Die Finanzmärkte haben ein Déjà-vu-Problem. Wieder einmal dominiert ein US-Haushaltsdrama die Schlagzeilen, wieder einmal droht ein Government Shutdown die weltgrößte Volkswirtschaft lahmzulegen, und wieder einmal fragen sich Anleger in Frankfurt, Paris und Mailand: Was bedeutet das eigentlich für uns? Während in Washington Republikaner und Demokraten nach 40 Tagen Stillstand endlich einen prozeduralen Durchbruch erzielten, offenbart sich eine tieferliegende Wahrheit: Politische Instabilität ist längst kein temporäres Phänomen mehr – sie wird zum Dauerzustand, mit dem Unternehmen und Investoren kalkulieren müssen.
Gleichzeitig vollzieht sich eine bemerkenswerte Verschiebung in der globalen Wirtschaftsarchitektur. China setzt im Handelsstreit mit den USA überraschend auf Deeskalation und lockert Exportkontrollen für kritische Mineralien. Die Europäische Union verschärft ihre Visaregeln für russische Staatsbürger. Und während Gold als Krisenwährung neue Höchststände erklimmt, zeigen sich erste Risse im vermeintlich unaufhaltsamen Aufstieg der Immobilienpreise in Deutschland. Willkommen in einer Woche, in der nichts so sicher ist wie die Unsicherheit selbst.
Washington: Der 40-Tage-Shutdown und seine unsichtbaren Kosten
Am Sonntagabend gelang dem US-Senat ein Durchbruch, der fast schon historisch wirkt: Mit 60 Ja-Stimmen – darunter acht Demokraten – wurde eine entscheidende prozedurale Hürde auf dem Weg zur Beendigung des längsten Government Shutdowns der jüngeren Geschichte genommen. Nach mehr als einem Dutzend gescheiterter Abstimmungen seit September bewegt sich die Ausgabengesetzgebung nun endlich vorwärts. Doch der Schaden ist längst angerichtet.
Was in Europa oft als amerikanisches Polittheater abgetan wird, hat handfeste wirtschaftliche Konsequenzen – auch für uns. Seit Beginn der Haushaltssperre fehlen essenzielle Wirtschaftsdaten, die normalerweise Transparenz über die Verfassung der US-Ökonomie liefern. Der Commitments-of-Traders-Report der CFTC etwa basiert noch immer auf Daten vom 23. September – eine Ewigkeit in Zeiten volatiler Märkte. Für europäische Investoren, die auf diese Informationen angewiesen sind, bedeutet das: Entscheidungen im Nebel.
Die direkten Folgen sind dramatisch: Bundesbedienstete wurden lahmgelegt, Nahrungsmittelhilfen verzögert, der Flugverkehr beeinträchtigt. Doch die indirekten Kosten wiegen schwerer. Wenn die größte Volkswirtschaft der Welt alle paar Jahre beweist, dass sie nicht in der Lage ist, einen simplen Haushalt zu verabschieden, untergräbt das systematisch das Vertrauen in die Stabilität globaler Lieferketten und Finanzströme. Für europäische Unternehmen mit US-Engagement bedeutet das: höhere Risikoprämien, komplexere Planungsszenarien, teurere Absicherungsgeschäfte.
Besonders pikant: Die politische Dysfunktion in Washington fällt zusammen mit einer Phase, in der die transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen ohnehin unter Druck stehen. Während Europa versucht, seine strategische Autonomie zu stärken, zeigt der Shutdown einmal mehr, wie abhängig die Weltwirtschaft noch immer von der politischen Stabilität der USA ist. Die Frage ist nicht mehr, ob der nächste Shutdown kommt – sondern nur noch wann.
Peking überrascht: Seltene Erden als Friedensangebot
In eine völlig andere Richtung weist eine Meldung aus China, die am Wochenende fast unterging: Peking hat einige Exportkontrollen für kritische Mineralien – darunter Seltene Erden, Gallium, Germanium und Antimon – vorübergehend ausgesetzt. Die Maßnahme folgt auf ein Handelsabkommen mit den USA vom vergangenen Monat und gilt bis 27. November 2026. Auf den ersten Blick eine technische Anpassung, auf den zweiten eine bemerkenswerte strategische Geste.
Denn China hatte diese Exportbeschränkungen ursprünglich als Druckmittel im Technologiekonflikt mit dem Westen eingeführt. Die Kontrolle über Seltene Erden – unverzichtbar für Halbleiter, Elektroautos und Verteidigungstechnologie – galt als eine der wenigen Trumpfkarten Pekings in einem Handelskrieg, den es militärisch nicht gewinnen kann. Die Lockerung signalisiert nun zweierlei: Erstens ist China bereit, im Rahmen bilateraler Deals Zugeständnisse zu machen. Zweitens hat Peking offenbar erkannt, dass eine zu aggressive Rohstoffpolitik westliche Abnehmer nur dazu treibt, alternative Lieferketten aufzubauen – ein Prozess, der in Europa bereits läuft.
Für die deutsche Industrie ist das eine gute Nachricht mit Beigeschmack. Einerseits entspannt sich die Versorgungslage bei kritischen Materialien, was Produktionskosten stabilisieren könnte. Andererseits zeigt die Episode, wie verwundbar europäische Hersteller in Schlüsseltechnologien noch immer sind. Die EU-Strategie, eigene Rohstoffquellen zu erschließen und Recyclingkapazitäten auszubauen, bleibt alternativlos – auch wenn China jetzt vorübergehend den Druck rausnimmt.
Bemerkenswert ist auch das Timing: Während die USA mit ihrem Haushaltsstreit beschäftigt sind, positioniert sich China als verlässlicher Partner. Ein kalkulierter Schachzug in einem globalen Spiel, bei dem Europa zunehmend zwischen die Fronten gerät.
Europas Antwort auf Moskau: Visa als Sicherheitspolitik
Während China auf Deeskalation setzt, verschärft die EU ihre Haltung gegenüber Russland. Die Europäische Kommission hat strengere Visaregeln für russische Staatsbürger eingeführt – eine Maßnahme, die offiziell mit erhöhten Sicherheitsrisiken durch Sabotage, Desinformation und Drohnenüberflüge begründet wird. Russische Antragsteller erhalten künftig keine Mehrfacheinreisevisa mehr; jede Reise erfordert einen neuen Antrag, was eine engmaschigere Kontrolle ermöglicht.
Henna Virkkunen, Vizepräsidentin der Kommission für Tech-Souveränität und Sicherheit, formulierte es unmissverständlich: "Russlands illegaler Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt weiterhin eine ernsthafte Bedrohung für die europäische Sicherheit dar." Die neuen Regeln sollen verhindern, dass russische Staatsangehörige die Reisefreiheit innerhalb des Schengen-Raums missbrauchen. Ausnahmen gibt es für unabhängige Journalisten und Menschenrechtsverteidiger – ein Signal, dass Brüssel zwischen Regime und Zivilgesellschaft unterscheidet.
Wirtschaftlich hat die Maßnahme zunächst begrenzte Auswirkungen. Der Handel zwischen der EU und Russland ist seit Beginn des Ukraine-Kriegs ohnehin drastisch eingebrochen, und Geschäftsreisen russischer Manager nach Europa waren bereits stark reglementiert. Doch die Symbolik ist klar: Europa zieht die Schrauben weiter an, während es gleichzeitig versucht, seine Energieversorgung zu diversifizieren und seine Verteidigungsfähigkeit zu stärken.
Für europäische Unternehmen mit historischen Geschäftsbeziehungen nach Russland bedeutet das: Der Weg zurück zur Normalität wird noch länger dauern als ohnehin schon befürchtet. Wer auf eine schnelle Wiederaufnahme der Wirtschaftsbeziehungen nach einem möglichen Kriegsende gehofft hatte, muss umdenken. Die EU hat sich strategisch von Moskau abgekoppelt – und diese Entscheidung ist mittelfristig irreversibel.
Gold glänzt, Öl schwankt: Rohstoffmärkte im Krisenmodus
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An den Rohstoffmärkten spiegelt sich die globale Unsicherheit in Echtzeit wider. Gold, die klassische Krisenwährung, legte zum Wochenstart kräftig zu und kletterte bis 8.30 Uhr MEZ um 74,60 Dollar auf 4.084,40 Dollar pro Feinunze. Die Treiber sind vielfältig: Die Aussicht auf ein Ende des US-Shutdowns sorgt zwar für etwas Entspannung, doch die grundsätzliche Verunsicherung über die Stabilität der Weltordnung bleibt. Hinzu kommen anhaltende Inflationssorgen – in den USA pendelt die Teuerungsrate um 3 Prozent, im Euroraum liegt sie über 2 Prozent. Beide Notenbanken haben ihr Inflationsziel von 2 Prozent noch nicht nachhaltig erreicht, und die Märkte zweifeln zunehmend daran, dass es kurzfristig gelingen wird.
Gleichzeitig bröckelt das Vertrauen in Währungen und Staatsanleihen. Die USA kämpfen mit hohen Haushaltsdefiziten und ausufernden Staatsschulden, Frankreich steht unter ähnlichem Druck. Präsident Trump stellt zudem die Unabhängigkeit der Federal Reserve infrage – ein Alarmsignal für Anleger, die auf stabile geldpolitische Rahmenbedingungen angewiesen sind. Der Dollar schwächelt entsprechend gegenüber dem Euro, was für europäische Exporteure eine willkommene Entlastung bedeutet, aber auch die Importkosten verteuert.
Goldman Sachs hält mittlerweile einen Goldpreis von 5.000 Dollar pro Unze für möglich – vorausgesetzt, nur ein Prozent der US-Staatsanleihen im Privatbesitz würden in das Edelmetall umgeschichtet. Eine gewagte These, doch sie zeigt, wie ernst die Sorgen um die Stabilität des Finanzsystems genommen werden. Für Anleger bedeutet das: Gold bleibt ein unverzichtbarer Baustein im Portfolio, auch wenn physische Käufe mit Aufschlägen und Lagerkosten verbunden sind. Alternativen wie ETFs oder Minenaktien bieten flexiblere Einstiegsmöglichkeiten.
Beim Öl sieht die Lage differenzierter aus. Der WTI-Future verteuerte sich am Montagmorgen um 0,46 Dollar auf 60,21 Dollar, Brent legte um 0,42 Dollar auf 64,05 Dollar zu. Die Hoffnung auf ein Ende des US-Shutdowns stützt die Preise, da eine funktionierende US-Wirtschaft auch mehr Öl nachfragt. Doch gleichzeitig wächst das globale Überangebot: In den USA sind die Rohölbestände gestiegen, in asiatischen Gewässern hat sich die Menge an auf Schiffen gelagertem Öl in den letzten Wochen verdoppelt – eine Folge verschärfter westlicher Sanktionen gegen russische Lieferungen. Indische Raffinerien weichen verstärkt auf Lieferanten aus dem Nahen Osten und Amerika aus, während chinesische Importquoten die Nachfrage bremsen. Das Ergebnis: ein Markt im Ungleichgewicht, der kurzfristig volatil bleiben dürfte.
Deutsche Immobilien: Der Anstieg verlangsamt sich
Während Gold als sicherer Hafen boomt, zeigt sich am deutschen Immobilienmarkt eine bemerkenswerte Entwicklung: Der Preisanstieg setzt sich zwar fort, verliert aber an Dynamik. Laut einer Analyse des Verbands deutscher Pfandbriefbanken kletterten die Immobilienpreise im dritten Quartal 2025 um 3,6 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum – gegenüber dem direkten Vorquartal belief sich das Plus auf lediglich 0,7 Prozent. Das ist der schwächste Quartalsanstieg seit Beginn der Erholungsphase im Frühjahr 2024.
Die Zahlen basieren auf echten Transaktionsdaten von über 700 Kreditinstituten und umfassen den gesamten deutschen Markt für Wohn-, Büro- und Einzelhandelsimmobilien. Den größten Beitrag zum Preisanstieg leisteten erneut Wohnimmobilien (+3,8 Prozent auf Jahressicht, +0,8 Prozent zum Vorquartal). Besonders stark verteuerten sich Mehrfamilienhäuser (+5,2 Prozent), während selbst genutztes Wohneigentum – Einfamilienhäuser und Eigentumswohnungen – nur um 2,4 Prozent zulegte. Bei Gewerbeimmobilien fiel der Anstieg mit 2,8 Prozent auf Jahressicht und 0,5 Prozent zum Vorquartal noch moderater aus.
Was bedeutet das? Der Immobilienmarkt hat sich nach dem drastischen Einbruch 2022/2023 stabilisiert, aber von einer neuen Boomphase kann keine Rede sein. Die Erholung verläuft langsam und ungleichmäßig – abhängig von Assetklasse, Lage und energetischem Zustand. In den Top-7-Städten (Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Stuttgart) stiegen die Preise etwas stärker (+4,6 Prozent), doch auch hier zeigt sich eine Spreizung: Während München mit +5,3 Prozent weiter davonzieht, legte Stuttgart nur um 2,4 Prozent zu.
Besonders aufschlussreich ist die Entwicklung der Neuvertragsmieten: Sie erhöhten sich um 3,7 Prozent auf Jahressicht – ein Zeichen dafür, dass der Wohnungsmarkt angespannt bleibt. Die Renditen von Mehrfamilienhäusern gingen allerdings um 1,4 Prozent zurück, da die Mieten weniger dynamisch wuchsen als die Preise. Für Investoren bedeutet das: Die Zeiten zweistelliger Renditen sind vorbei, aber Immobilien bleiben in einem Umfeld niedriger Realzinsen attraktiv.
VDP-Hauptgeschäftsführer Jens Tolckmitt fasst es nüchtern zusammen: "Die Marktakteure haben sich mit den neuen Rahmenbedingungen arrangiert." Übersetzt heißt das: Höhere Zinsen, strengere Kreditvergabe und gestiegene Baukosten sind die neue Normalität. Wer heute investiert, tut das nicht mehr aus Euphorie, sondern aus kühler Kalkulation. Und genau das könnte langfristig gesünder sein als die Spekulationsblasen der Vergangenheit.
Die Woche voraus: Notenbanken, Quartalszahlen und geopolitische Weichenstellungen
Die kommenden Tage versprechen weitere Impulse. In den USA wird mit Spannung beobachtet, ob der Senat die Ausgabengesetzgebung tatsächlich verabschiedet und der Shutdown endgültig beendet wird. Sollte das gelingen, dürften wichtige Wirtschaftsdaten nachgeliefert werden – darunter die lang erwarteten Arbeitsmarkt- und Inflationszahlen, die für die weitere Zinspolitik der Federal Reserve entscheidend sind.
In Europa richtet sich der Blick auf die Europäische Zentralbank. Zwar steht diese Woche keine Zinsentscheidung an, doch EZB-Direktoriumsmitglieder werden in verschiedenen Foren sprechen und möglicherweise Hinweise auf den weiteren geldpolitischen Kurs geben. Die Märkte preisen derzeit eine weitere Zinssenkung im Dezember ein, doch die hartnäckige Inflation könnte der EZB einen Strich durch die Rechnung machen.
Auch die Quartalszahlensaison geht in die entscheidende Phase. Besonders im Fokus stehen Unternehmen aus der Automobil- und Halbleiterbranche, die unter dem Druck chinesischer Konkurrenz und schwacher Nachfrage leiden. Jede Gewinnwarnung könnte die ohnehin fragile Stimmung an den Aktienmärkten weiter belasten.
Geopolitisch bleibt die Lage angespannt. Die verschärften EU-Visaregeln für Russland treten in Kraft, während China weiter an seiner Deeskalationsstrategie arbeitet. Ob die vorübergehende Lockerung der Exportkontrollen für Seltene Erden zu einem dauerhaften Tauwetter im Handelskonflikt führt, bleibt abzuwarten. Viel wird davon abhängen, wie die USA auf Pekings Geste reagieren – und ob Washington überhaupt handlungsfähig ist.
Für Anleger bedeutet das: Wachsamkeit bleibt das Gebot der Stunde. Wer in diesem Umfeld erfolgreich navigieren will, braucht nicht nur einen klaren Kopf, sondern auch die Bereitschaft, Portfolios flexibel anzupassen. Gold als Absicherung, selektive Immobilieninvestments, Rohstoff-Diversifikation – die klassischen Rezepte funktionieren weiter, aber sie erfordern mehr Fingerspitzengefühl denn je.
In einer Welt, in der Regierungen nicht mehr regieren können, Handelskriege durch Gesten ersetzt werden und Märkte auf jede Nachricht mit Extremreaktionen antworten, wird eines klar: Die neue Normalität ist die Unsicherheit. Wer das akzeptiert und seine Strategie darauf ausrichtet, hat die besten Chancen, nicht nur zu überleben, sondern zu profitieren.
Bis nächste Woche – bleiben Sie wachsam,
Eduard Altmann








