Guten Tag,

während die Schlagzeilen über Künstliche Intelligenz und Quantencomputer nicht abreißen, vollzieht sich eine stille Revolution dort, wo sie niemand vermutet: in den Produktionshallen der Pharmaindustrie und in den Rechenzentren globaler Zahlungssysteme. Zwei Welten, die auf den ersten Blick nichts verbindet – außer einem gemeinsamen Problem: Beide kämpfen mit den Überresten analoger Prozesse in einer zunehmend digitalen Wirtschaft.

Die Zahlen, die heute aus beiden Bereichen vorliegen, erzählen eine Geschichte über die versteckten Ineffizienzen moderner Wirtschaftssysteme. Und sie zeigen, wie viel Potenzial noch in der Digitalisierung jener Bereiche steckt, die längst als "erledigt" galten.

Papierkram im Reinraum: Die 70-Prozent-Lücke

Wenn ein Pharmaunternehmen eine Produktionslinie umbaut – etwa von der Herstellung eines Blutdrucksenkers auf ein Diabetesmedikament –, beginnt ein Ritual, das an die Vor-Computer-Ära erinnert. Checklisten werden ausgedruckt, handschriftlich abgehakt, eingescannt, archiviert. 63 Prozent der Pharma- und Medizintechnikunternehmen arbeiten laut einer aktuellen Studie von Catalyx noch immer mit papierbasiertem "Line Clearance" – jenem kritischen Prozess, der sicherstellen soll, dass keine Reste des vorherigen Produkts in die neue Charge gelangen.

Das Ergebnis: 70 Prozent dieser Unternehmen erlebten im vergangenen Jahr mindestens einen Freigabefehler, 30 Prozent sogar sechs oder mehr. Jeder Fehler kostet Zeit, Geld und im schlimmsten Fall Menschenleben. Eine einfache Produktionsumstellung dauert zwischen 30 Minuten und zwei Stunden, komplexe Wechsel verschlingen mehr als vier Stunden – Zeit, in der hochqualifizierte Mitarbeiter Formulare ausfüllen statt Medikamente herzustellen.

Die Ironie: Während die Pharmaindustrie Milliarden in die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen und personalisierten Krebstherapien investiert, scheitert sie an der Digitalisierung ihrer Produktionsabläufe. Nur 11 Prozent haben ihre Freigabeprozesse vollständig digitalisiert, weitere 26 Prozent nutzen hybride Ansätze. Der Rest verlässt sich auf Papier, Stift und menschliche Aufmerksamkeit – in einer Branche, in der Fehler katastrophal sein können.

22. November 2025: Der Tag, an dem das Geld neu schreiben lernte

Drei Tage vor diesem Newsletter, am vergangenen Freitag, vollzog sich eine weitaus größere Transformation – allerdings weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. An diesem Tag endete die Übergangsphase für ISO 20022, den neuen globalen Standard für grenzüberschreitende Zahlungen. Seither müssen alle internationalen Überweisungen im Swift-Netzwerk in diesem Format erfolgen.

Was nach technischem Detail klingt, ist in Wahrheit ein Paradigmenwechsel: ISO 20022 ersetzt die seit den 1970er-Jahren genutzten MT-Nachrichten durch ein strukturiertes, datenreiches Format. Statt kryptischer Codes können Banken nun detaillierte Informationen über Zahlungszweck, beteiligte Parteien und Transaktionshintergründe übermitteln. 97 Prozent der Zahlungsanweisungen werden bereits im neuen Format verschickt, die restlichen drei Prozent werden automatisch konvertiert.

Die Parallele zur Pharmaindustrie ist verblüffend: Auch hier geht es darum, analoge oder semi-digitale Prozesse durch durchgängig strukturierte Datenflüsse zu ersetzen. Swift nutzt die neue Infrastruktur bereits, um eine Blockchain-basierte Plattform für tokenisierte Vermögenswerte zu entwickeln – ein System, das traditionelle Finanzwelt und dezentrale Kryptomärkte verbinden soll.

Die Kosten der Zwischenwelt

Was beide Beispiele verbindet, ist die Erkenntnis, dass der Übergang von analog zu digital kein einmaliger Schritt ist, sondern ein langwieriger, teurer Prozess. Die Pharmaindustrie steckt in einer "Zwischenwelt": Pilotprojekte für KI-gestützte Freigabeprozesse laufen seit Jahren, doch die Skalierung scheitert an regulatorischen Unsicherheiten, Investitionskosten und organisatorischer Trägheit. Erst wenn Regulierungsbehörden wie die FDA klare Rahmenwerke für den Einsatz von KI in der Produktion schaffen, wird sich das ändern – ein Prozess, der laut Branchenexperten noch Jahre dauern könnte.

Im Zahlungsverkehr ist man einen Schritt weiter, aber auch hier zeigen sich die Grenzen. ISO 20022 ermöglicht zwar reichhaltigere Daten, doch die Frage bleibt: Wer nutzt diese Daten, und wofür? Die Hoffnung ist, dass bessere Informationen zu schnelleren, günstigeren und sichereren Transaktionen führen. Die Realität könnte komplizierter sein – etwa wenn unterschiedliche Banken die neuen Möglichkeiten unterschiedlich interpretieren oder wenn Datenschutzregeln die Nutzung einschränken.

Europa im Rückspiegel

Beide Entwicklungen werfen ein Schlaglicht auf Europas Position im globalen Technologiewettlauf. Während die USA und China bei KI-Anwendungen vorpreschen, kämpft Europa mit der Digitalisierung seiner Grundinfrastrukturen. Die Pharmaindustrie, traditionell eine europäische Stärke, droht in der Produktionseffizienz zurückzufallen. Und während Swift mit Sitz in Belgien den globalen Zahlungsstandard setzt, entstehen die innovativsten Fintech-Lösungen anderswo.

Die gute Nachricht: Europa hat erkannt, dass Regulierung nicht nur Hemmschuh, sondern auch Wettbewerbsvorteil sein kann. Die EU-KI-Verordnung, die Ende 2024 in Kraft trat, könnte langfristig europäischen Unternehmen helfen, KI-Systeme zu entwickeln, die weltweit als vertrauenswürdig gelten. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg – und die Konkurrenz schläft nicht.

Ausblick: Die Infrastruktur-Dekade

Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die Digitalisierung der "unsichtbaren" Wirtschaftsbereiche gelingt. In der Pharmaindustrie stehen die Zeichen auf Wandel: Neue Regulierungsrahmen für KI-gestützte Produktionssysteme werden erwartet, und der Druck durch Lieferengpässe und Qualitätsprobleme steigt. Im Zahlungsverkehr wird sich zeigen, ob ISO 20022 tatsächlich die versprochenen Effizienzgewinne bringt – oder ob es nur eine teurere Version des Alten ist.

Für Anleger bedeutet das: Wer in Infrastruktur investieren will, sollte nicht nur an Straßen und Glasfaserkabel denken. Die spannendsten Chancen liegen in jenen Unternehmen, die die digitale Transformation der Wirtschaftsprozesse vorantreiben – sei es durch Software für Produktionsmanagement, durch Zahlungsdienstleistungen oder durch die Bereitstellung von Dateninfrastrukturen. Es sind nicht die lautesten, aber vielleicht die nachhaltigsten Investments der kommenden Dekade.

Die Frage ist nicht, ob diese Transformation kommt. Die Frage ist, wer sie gestaltet – und wer nur zuschaut.

Einen erkenntnisreichen Dienstag wünscht Ihnen

Eduard Altmann