DAMASKUS/ISTANBUL (dpa-AFX) - Mehr als drei Tage nach dem katastrophalen Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet schwindet die Hoffnung auf letzte Überlebende und steigt die Zahl der Toten unaufhörlich. Unter den Trümmern der Tausenden eingestürzten Gebäude in beiden Ländern sind vermutlich noch Zehntausende Opfer zu befürchten. Bislang sind mehr als 17 000 Tote gemeldet worden. Hinzu kommen um die 70 000 Verletzte in der Türkei und in Syrien.

Die Rettungskräfte kämpfen gegen die Zeit. Mit jeder Stunde, die seit dem Erdbeben verstreicht, sinken die Chancen, noch Lebende unter den Trümmern zu finden. Mehr als 100 000 Helfer sind in der Türkei nach Regierungsangaben im Einsatz. Sie werden von Suchhunden unterstützt.

Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert. Montagmittag folgte dann ein weiteres Beben der Stärke 7,6 in derselben Region.

Es gebe inzwischen 14 351 Tote allein in der Türkei, teilte die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad am Donnerstagmittag mit. Mehr als 63 000 Menschen seien verletzt worden. Aus Syrien waren zuletzt mindestens 3200 Tote gemeldet.

Im Nordwesten Syriens bleibt die Rettung von Menschen auch drei Tage nach der Erdbebenkatastrophe wegen des Mangels an Ausrüstung eine Herausforderung. "Es fehlt uns am Wesentlichen. Wir brauchen große Kräne, um große (Trümmer-)Brocken zu beseitigen. Wir brauchen schwere Ausrüstung, um mit dieser Tragödie umzugehen", sagte Munir Mustafa, stellvertretender Leiter der Rettungsorganisation Weißhelme.

"Wir nutzen unsere Hände und Schaufeln, um die Trümmer zu beseitigen. Einige von uns haben in den letzten 70 Stunden nicht mehr als sechs Stunden geschlafen", sagte Ubadah Sikra, der die Rettungseinsätze bei den Weißhelmen koordiniert und inzwischen selbst mit anpackt. "Einige Freiwillige weigern sich, eine Pause zu machen, weil sie versuchen wollen, mehr Leben zu retten." Einige der Freiwilligen würden auch Freunde und Angehörige aus den Trümmern ziehen.

Die Bundesregierung arbeitet daran, die Versorgung der Menschen im schwer erreichbaren Nordsyrien zu verbessern. Das Problem sei, dass das "Regime" in der Vergangenheit keine humanitären Hilfen ins Land gelassen habe, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Radiosender WDR 5. Auf die Frage, ob die Bundesregierung mit Damaskus in Kontakt stehe, sagte Baerbock: "Wir sind mit allen Akteuren in Verbindung, mit denen wir jetzt erreichen können, dass die Hilfe ankommen kann."

Zur Unterstützung der nur schwer erreichbaren Erdbeben-Opfer in Nordwesten Syriens trafen am Donnerstag sechs Lastwagen mit Hilfsgütern der Vereinten Nationen ein. Die Transporter seien aus der Türkei gestartet und hätten den einzigen noch offenen Grenzübergang Bab al-Hawa passiert, hieß es von den UN. Die beschädigten Straßen dorthin waren der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge teilweise wieder repariert worden.

Der Grenzübergang Bab al-Hawa war schon vor dem Erdbeben eine Lebensader für rund 4,5 Millionen Menschen im Nordwesten des Landes, die nicht von der syrischen Regierung kontrolliert werden. 90 Prozent der Bevölkerung waren dort bereits vor der Katastrophe nach UN-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen. In der Region leben Millionen Menschen, die durch Kämpfe in Syrien vertrieben wurden. Zu ihrem Leid kommen unter anderem mangelhafte Ernährung, Cholera, kaltes Winterwetter und nun die Folgen der Erdbeben hinzu.

Aktivisten hatten zuvor berichtet, dass nach dem Erdbeben zwar keine Hilfsgüter, stattdessen aber Leichen von Syrern aus der Türkei über den Grenzübergang transportiert würden. In der Türkei leben Millionen syrische Flüchtlinge. Die syrische Grenzbehörde veröffentlichte Fotos von Kleinbussen, aus denen Leichensäcke in andere Fahrzeuge umgeladen werden. Seit den Erdbeben am Montag kamen der Behörde zufolge mehr als 300 Leichen von Syrern über Bab al-Hawa nach Syrien.

Dem Sender TRT World zufolge konnten in der Türkei bislang etwa 8000 Menschen aus den Trümmern gerettet werden. Eine Reporterin des Fernsehkanals berichtete über den verzweifelten Kampf gegen die Zeit: "Die Retter weigern sich aufzugeben." Aber die Momente der Freude über eine weitere Rettung würden immer seltener.

Trotzdem gibt es noch immer kleine Erfolgsmeldungen: Deutsche und britische Helfer befreiten etwa in der Nacht zu Donnerstag in der türkischen Stadt Kahramanmaras eine Mutter und ihre sechsjährige Tochter aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses. Das teilte die Hilfsorganisation @fire am Donnerstag in Wallenhorst bei Osnabrück mit. Die Organisation ist nach Angaben ihres Sprechers Sebastian Baum mit insgesamt 40 Helfern aus ganz Deutschland und dem angrenzenden Ausland in der Erdbebenregion tätig. Zuvor seien bereits am frühen Mittwochmorgen zwei Menschen von @fire-Helfern gerettet worden.

Mutter und Kind seien in den Trümmern des Hauses geortet worden. Fast 20 Stunden hätten sich die Helferinnen und Helfer von @fire und der britischen Organisation Saraid durch die Trümmer gearbeitet, berichtete Baum. Bei Minustemperaturen drohten Mutter und Kind zu erfrieren.

Die ersten drei Hilfsflüge der Bundeswehr starteten am Donnerstag vom niedersächsischen Wunstorf aus in die Türkei. Die drei Flugzeuge vom Typ Airbus A 400M waren mit insgesamt 50 Tonnen Hilfsgütern beladen, darunter knapp 2000 Feldbetten, Schlafsäcke und Decken. Auch Zelte, Heizgeräte und Isomatten wurden in das Krisengebiet gebracht. Die türkische Regierung habe Materialien zur Unterbringung der vom Erdbeben betroffenen Bevölkerung bei der Bundesregierung angefordert, sagte der Präsident des THW, Gerd Friedsam. Zuvor waren schon Teams verschiedener Hilfsorganisationen in die Türkei geflogen./jam/DP/tih

AXC0186 2023-02-09/12:58

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