Ukraine-Poker im Weißen Haus: Warum Trump plötzlich zögert

Liebe Leserinnen und Leser,

manchmal offenbart ein einziges Treffen mehr über die Weltlage als tausend Analysen. Als Wolodymyr Selenskyj gestern das Weiße Haus verließ, war klar: Die geopolitische Architektur verschiebt sich gerade fundamental – und Europa muss schnell reagieren.

Der ukrainische Präsident kam mit einer konkreten Wunschliste nach Washington. Ganz oben: Tomahawk-Marschflugkörper mit einer Reichweite, die Moskaus Kriegsmaschinerie empfindlich treffen könnte. Doch statt grünem Licht gab es diplomatisches Lavieren. Trump will die Waffen lieber behalten – und in zwei Wochen erst mal mit Putin reden.

Die Botschaft könnte kaum deutlicher sein.

Das neue Spiel der Großmächte

"Sie sollten dort aufhören, wo sie sind", verkündete Trump nach dem Treffen. Ein Satz, der in Kiew wie ein Schlag ins Gesicht wirken muss und in Moskau vermutlich für Zufriedenheit sorgt. Der US-Präsident, der sich gerne als Dealmaker inszeniert, scheint bereit, die territorialen Realitäten zu akzeptieren – Putin kontrolliert immerhin fast 20 Prozent der Ukraine.

Was steckt dahinter? Die Antwort liegt in einer bemerkenswerten Telefonkonferenz vom Donnerstag. Putin gratulierte Trump zu seinem "Erfolg" bei den Gaza-Verhandlungen. Ein geschickter Schachzug des Kreml-Chefs: Er füttert Trumps Ego und positioniert sich gleichzeitig als konstruktiver Gesprächspartner.

Das Kalkül scheint aufzugehen. Während europäische Hauptstädte noch über weitere Waffenlieferungen diskutieren, plant Trump bereits sein Budapest-Treffen mit Putin – bezeichnenderweise ohne Selenskyj.

Europas Stunde der Wahrheit

Friedrich Merz brachte es nach einer hastigen Telefonkonferenz mit Selenskyj auf den Punkt: "Jetzt braucht die Ukraine einen Friedensplan." Die Frage ist nur: Wessen Plan?

Die europäischen Partner versprechen zwar, ihre Unterstützung auszubauen und den Sanktionsdruck zu erhöhen. Doch die Realität sieht anders aus: Ohne amerikanische Rückendeckung fehlt Europa sowohl die militärische Schlagkraft als auch der diplomatische Hebel. Die Bundeswehr schickt drei unbewaffnete Soldaten zur Überwachung eines möglichen Friedensprozesses – ein Symbol unserer begrenzten Möglichkeiten.

Dabei zeigen die Zahlen, wie dringend Kiew Unterstützung braucht: Die russische Offensive hat 2025 bereits 5.000 Quadratkilometer ukrainisches Territorium verschlungen. Selenskyjs verzweifelter Appell – "Wir haben tausende Drohnen, aber uns fehlen die Raketen" – verhallte in Washington ungehört.

Die deutsche Brandmauer bröckelt

Während sich die Weltordnung neu sortiert, kämpft Deutschland mit seinen eigenen Dämonen. Die CDU-Präsidiumsklausur an diesem Wochenende wird zum Lackmustest für Friedrich Merz' Führungsstärke.

Der Druck aus den eigenen Reihen wächst: Peter Tauber und Karl-Theodor zu Guttenberg fordern eine "Normalisierung" im Umgang mit der AfD. In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern kratzt die rechte Partei an der 40-Prozent-Marke. Eine Regierungsbildung ohne sie wird zur mathematischen Unmöglichkeit.

Merz bleibt hart: "Die AfD ist unser Hauptgegner", donnerte er in der FAZ. Doch seine Analyse offenbart die Schwäche der Union: Man habe 2015 "zu viel Platz auf der rechten Seite gelassen". Die Quittung kommt jetzt, mitten in einer Zeit, in der Deutschland internationale Führungsstärke zeigen müsste.

Die Ironie der Geschichte: Während Merz die Brandmauer verteidigt, errichtet Trump neue Mauern zwischen Amerika und seinen Verbündeten.

Amerikas innerer Kulturkampf

Als wären die außenpolitischen Verwerfungen nicht genug, eskaliert in den USA der innenpolitische Konflikt. Für heute sind landesweit über 2.600 "No Kings"-Proteste angekündigt – eine Massenmobilisierung gegen Trumps autoritären Kurs.

Die Symbolik könnte kaum brisanter sein: Millionen Amerikaner gehen auf die Straße, um gegen einen Präsidenten zu protestieren, den sie als monarchischen Herrscher empfinden. Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez feuern die Massen an, während republikanische Hardliner die Demonstrationen als "Hate America Rally" diffamieren.

Besonders pikant: In Chicago tobt ein Rechtsstreit um den Einsatz der Nationalgarde. Trump will Soldaten gegen den Willen des demokratisch regierten Illinois einsetzen – ein Verfassungskonflikt, der nun vorm Supreme Court landet. Die konservative Mehrheit dort, die Trump selbst installiert hat, könnte ihm den Weg freimachen.

Handelskrieg 2.0

Inmitten dieses Chaos droht der nächste Wirtschaftsschock. Trump kündigte 100-Prozent-Strafzölle auf chinesische Importe an, sollte Peking seine Exportbeschränkungen für Seltene Erden nicht zurücknehmen. "Es ist nicht nachhaltig", räumte er selbst ein, "aber das ist die Zahl."

Finanzminister Scott Bessent soll nächste Woche in Malaysia mit seinem chinesischen Amtskollegen He Lifeng verhandeln. Die Wahl des Treffpunkts ist kein Zufall: Malaysia ist selbst von 19-Prozent-Zöllen betroffen und steht exemplarisch für die Kollateralschäden eines eskalierenden Handelskriegs.

Die WTO warnt bereits vor einem Rückgang der globalen Wirtschaftsleistung um sieben Prozent, sollten sich die beiden größten Volkswirtschaften wirklich entkoppeln. Für exportabhängige Nationen wie Deutschland wäre das eine Katastrophe.

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Apropos Handelskonflikte: Der technologische Wettlauf zwischen den USA und China wird längst nicht mehr nur mit Zöllen geführt. Entscheidend ist, wer die Hoheit über Mikrochips und künstliche Intelligenz gewinnt – die neue strategische Währung des 21. Jahrhunderts.
Ich habe mir kürzlich eine Analyse zu diesem „Chipkrieg“ angesehen, die zeigt, welche europäischen Unternehmen zu den möglichen Gewinnern des Megatrends zählen. Wer sich dafür interessiert, findet die Studie hier: Die neue Nvidia – Europas Chip-Chance im Megatrend 2025.

Der Preis der Energiewende

Einen Lichtblick gibt es immerhin für deutsche Verbraucher: Die Stromnetzentgelte sinken zum Jahreswechsel um durchschnittlich 16 Prozent. Ein Drei-Personen-Haushalt spart etwa 82 Euro – dank eines milliardenschweren Bundeszuschusses.

Doch die Entlastung ist ungleich verteilt: Berlin und Brandenburg profitieren mit 23 Prozent Reduktion am stärksten, Bremen mit nur acht Prozent am wenigsten. Gleichzeitig steigen die Gasnetzentgelte um elf Prozent – die Kosten der Energiewende werden neu verteilt, nicht reduziert.

Was die kommende Woche bringt

Die nächsten Tage werden zeigen, ob sich die tektonischen Verschiebungen der Weltpolitik fortsetzen:

Montag entscheidet das CDU-Präsidium über die Brandmauer-Strategie. Ein Aufweichen würde nicht nur die deutsche Politik erschüttern, sondern auch Europas Glaubwürdigkeit in der Verteidigung demokratischer Werte untergraben.

Mittwoch trifft Bessent seinen chinesischen Kollegen in Kuala Lumpur. Gelingt keine Einigung, droht ab 1. November die Zoll-Eskalation.

In zwei Wochen dann das große Trump-Putin-Treffen in Budapest. Europa wird zuschauen müssen, wie über das Schicksal der Ukraine verhandelt wird – ohne eigene Stimme am Tisch.

Die Welt ordnet sich neu, und Europa ringt um seine Rolle. Die alte transatlantische Gewissheit ist dahin, die neue Ordnung noch nicht erkennbar. Was bleibt, ist die Erkenntnis: Wir müssen schnell erwachsen werden in einer Welt, in der Verlässlichkeit zur Mangelware wird.

Die einzige Konstante scheint der Wandel selbst zu sein – und die Tatsache, dass Macht sich nicht an Moral orientiert, sondern an Möglichkeiten.

Herzlich,

Eduard Altmann

P.S.: Prinz Andrew gibt übrigens seinen Titel als Duke of York auf – die Epstein-Affäre holt ihn endgültig ein. Manchmal dauert es Jahre, bis die Vergangenheit ihre Rechnung präsentiert. Das gilt für Individuen wie für Nationen.