Syrien-Poker, KI-Milliarden und der Zinskrimi

Liebe Leserinnen und Leser,

während in Damaskus das politische Experiment einer parlamentarischen Neuordnung startet, spielen sich an den Finanzmärkten dieser Dienstag gleich mehrere Dramen ab: Die OECD hebt ihre Wachstumsprognosen an – aber warnt vor Handelskriegen. Die Fed-Banker streiten öffentlich über Zinssenkungen. Und in den Chefetagen von onsemi und LSEG fallen milliardenschwere Entscheidungen über die Zukunft der KI-Revolution.

Damaskus testet die Demokratie – Märkte beobachten skeptisch

Was haben Syriens erste Parlamentswahlen nach Assad mit den globalen Finanzmärkten zu tun? Mehr als Sie denken. Das Land bereitet für Oktober ein gewagtes Experiment vor: 210 Abgeordnete sollen gewählt werden – allerdings ohne allgemeines Wahlrecht und mit erheblichen Einschränkungen für Minderheiten.

Die Kurden im Nordosten und die Drusen im Süden boykottieren bereits. Präsident Ahmed al-Sharaa, selbst sunnitischer Islamist, ernennt ein Drittel der Parlamentarier persönlich. Fünfzehn Bürgerrechtsgruppen warnen vor einer "Scheindemokratie".

Warum das für europäische Investoren relevant ist? Syrien sitzt auf ungenutzten Öl- und Gasreserven, kontrolliert wichtige Transitrouten und könnte bei erfolgreicher Stabilisierung zum Wiederaufbau-Markt werden. Deutsche und französische Baukonzerne beobachten die Entwicklung bereits intensiv. Doch die Signale sind widersprüchlich: Einerseits verspricht die neue Führung Inklusivität, andererseits schließt sie zentrale Bevölkerungsgruppen systematisch aus. Ein klassisches Investitionsrisiko, das an die frühen Tage des Irak nach Saddam erinnert.

OECD-Prognose: Die Welt wächst trotz Trump-Zöllen – noch

Die Weltwirtschaft erweist sich als erstaunlich widerstandsfähig. Zumindest oberflächlich betrachtet. Die OECD hat ihre globale Wachstumsprognose für 2025 auf 3,2 Prozent angehoben – deutlich über den im Juni erwarteten 2,9 Prozent.

Doch die Pariser Ökonomen liefern gleich die Warnung mit: Der effektive US-Zollsatz ist mit 19,5 Prozent auf dem höchsten Stand seit 1933. Ja, Sie lesen richtig – seit der Großen Depression. Die vollen Auswirkungen? "Noch nicht spürbar", heißt es im Bericht. Unternehmen hätten Lager aufgebaut und würden Zollerhöhungen zunächst über ihre Margen absorbieren.

Für Europa zeichnet die OECD ein gemischtes Bild: Deutschland soll 2025 nur um mickrige 0,3 Prozent wachsen (Juni-Prognose: 0,4%), während Spanien mit 2,6 Prozent glänzt. Der Grund? "Fiskalische Expansion in Deutschland wird von Haushaltskonsolidierung in Frankreich und Italien neutralisiert", analysieren die Experten trocken.

Anders gesagt: Während Berlin endlich Geld ausgeben will, sparen Paris und Rom. Das Ergebnis: Europa tritt auf der Stelle. Die eigentliche Gefahr lauert aber woanders – in einer Eskalation des Handelskriegs. "Zusätzliche bilaterale Zölle könnten die politische Unsicherheit weiter erhöhen", warnt die OECD. Das Szenario einer Abwärtsspirale aus Vergeltungszöllen und schrumpfendem Welthandel ist keine Theorie mehr, sondern eine reale Bedrohung.

Fed-Drama: Wenn Notenbanker sich öffentlich widersprechen

An der Wall Street herrscht Verwirrung. Gleich vier Fed-Gouverneure haben sich gestern zu Wort gemeldet – mit komplett unterschiedlichen Botschaften. Alberto Musalem aus St. Louis mahnt zur "Vorsicht", Beth Hammack aus Cleveland warnt vor zu schnellen Zinssenkungen. Gleichzeitig fordert der neue Gouverneur Stephen Miran "aggressive" Cuts, um den Arbeitsmarkt zu retten.

Der Markt? Ratlos. Die Wahrscheinlichkeit für eine Oktober-Zinssenkung fiel von 91,9% auf 89,8%. Die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen kletterte auf ein Dreiwochenhoch von 4,15%.

Heute Nachmittag spricht Fed-Chef Jerome Powell. Die Märkte hoffen auf Klarheit. Doch Powell dürfte das tun, was er am besten kann: vage bleiben. "Die Fed navigiert zwischen Inflation und Rezession", sagt ein Händler bei der Deutschen Bank. "Und niemand weiß, welche Gefahr Powell für größer hält."

Für europäische Anleger bedeutet das: Der Dollar bleibt unberechenbar. Gegen den Euro dümpelt er bei 1,1798, gegen das Pfund bei 1,3508. Die wirkliche Action findet woanders statt: Argentiniens Peso legte 4,5% zu, nachdem US-Finanzminister Bessent "alle Optionen" zur Stabilisierung des Landes ins Spiel brachte. Ein seltenes Beispiel erfolgreicher Währungsintervention – oder der Beginn eines teuren Experiments?

onsemi kauft sich KI-Power: Der unterschätzte Deal des Jahres

Während alle Welt auf Nvidia starrt, schmiedet ein anderer Chip-Riese die Zukunft der KI-Infrastruktur. onsemi übernimmt von Aura Semiconductor deren Vcore-Technologie – ein Deal, der die Machtverhältnisse im milliardenschweren Markt für Datacenter-Stromversorgung verschieben könnte.

"Vom Netz bis zum Kern", nennt Sudhir Gopalswamy, Konzernchef von onsemi, die neue Strategie. Was technisch klingt, ist revolutionär: KI-Rechenzentren verschlingen Unmengen Strom. Die Vcore-Technologie ermöglicht effizientere Energieverteilung direkt auf Chip-Ebene.

Analysten sprechen vom "Missing Link" der KI-Revolution. Denn was nützen die schnellsten Prozessoren, wenn die Stromversorgung zum Flaschenhals wird? onsemi positioniert sich als unverzichtbarer Zulieferer für die Tech-Giganten. Die Übernahme soll im vierten Quartal abgeschlossen werden. Der Kaufpreis? Vertraulich. Die Auswirkungen? Gewaltig.

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Apropos Chip-Sektor: Wer die aktuellen Bewegungen rund um Nvidia und den globalen Technologie-Krieg zwischen USA und China verstehen – und finanziell nutzen – will, findet hier einen lesenswerten Ansatz. In einem Report wird im Detail erklärt, welches europäische Unternehmen als „neue Nvidia“ gehandelt wird und warum Analysten Kurschancen von über 20.000 % ins Spiel bringen: Zur Analyse der „neuen Nvidia“

LSEG und Databricks: Die Daten-Allianz, die Banken aufhorchen lässt

Die London Stock Exchange Group (LSEG) und Databricks schmieden eine Partnerschaft, die das Kraftverhältnis im Milliardenmarkt für Finanzdaten neu ordnen könnte. Ab sofort sind LSEGs Premium-Datensätze – von Lipper-Fondsdaten bis zu Tick-Historie – nativ in Databricks verfügbar.

Klingt nach Technik-Kauderwelsch? Die Implikationen sind dramatisch: Globale Banken können erstmals KI-Agenten direkt auf Echtzeit-Marktdaten loslassen. Keine komplexen Pipelines mehr, keine Zeitverzögerung. "In Tagen statt Monaten" könnten Finanzinstitute nun KI-gestützte Handelsstrategien entwickeln, verspricht Databricks.

Emily Prince, KI-Chefin bei LSEG, wird erstaunlich konkret: "Wir bringen unsere Daten dorthin, wo Kunden sie brauchen." Übersetzt: Die Zeiten, in denen Datenmonopolisten die Bedingungen diktierten, sind vorbei. Die Macht verschiebt sich zu den Plattformen. Und Databricks, das mehr als 20.000 Organisationen beliefert, wird zum zentralen Nervensystem der Finanzwelt.

Deutsche und europäische Banken stehen vor einer Grundsatzentscheidung: Mitspielen oder abgehängt werden. Die Commerzbank und BNP Paribas testen bereits. Die Sparkassen? Schauen noch zu.

Der Blick nach vorn: Worauf Sie achten sollten

Die nächsten 48 Stunden werden spannend. Heute Abend (19:30 MEZ) spricht Powell in Nashville – achten Sie auf Nuancen in seiner Wortwahl zur Inflation. Morgen veröffentlicht Deutschland die ifo-Geschäftsklimaindex-Zahlen. Die Erwartung: weitere Eintrübung. Am Donnerstag dann US-BIP-Daten für Q2.

Die große Frage dieser Woche: Können die robusten Wachstumszahlen die Angst vor Handelskriegen überdecken? Die Antwort entscheidet über die Richtung der Märkte bis Jahresende.

Was mich persönlich umtreibt: Die Gleichzeitigkeit von technologischem Fortschritt und politischem Rückschritt. Während KI-Systeme in Millisekunden Milliardentransaktionen analysieren, experimentiert Syrien mit vordemokratischen Wahlverfahren. Während die Fed über Viertelprozentpunkte streitet, explodieren die Staatsschulden weltweit.

Wir leben in einer Zeit der Extreme – und genau das macht sie so faszinierend.

Bis morgen aus dem regnerischen Frankfurt,

Ihr Eduard Altmann

P.S.: Die Deutsche Bahn hat heute Evelyn Palla zur neuen Chefin ernannt. Die ehemalige Südtirolerin soll es richten. Die Bahn-Aktie... ach, Moment, die gibt es ja gar nicht. Vielleicht auch besser so.