Shutdown-Chaos in Washington: Wenn Politik Millionen hungern lässt
Guten Abend,
während in Barcelona diese Woche die globale Smart-City-Elite über die Zukunft urbaner Resilienz diskutierte, spielte sich in den USA ein Drama ab, das zeigt, wie schnell vermeintlich sichere Systeme kollabieren können: Der längste Government Shutdown der amerikanischen Geschichte hält 42 Millionen Menschen in Geiselhaft – Menschen, die auf Lebensmittelmarken angewiesen sind und nun buchstäblich nicht wissen, ob sie sich nächste Woche noch Essen leisten können.
Was auf den ersten Blick wie ein rein amerikanisches Problem erscheint, offenbart bei näherem Hinsehen grundsätzliche Fragen über die Fragilität moderner Wohlfahrtssysteme, die Grenzen politischer Blockaden und die wirtschaftlichen Dominoeffekte, wenn Staaten ihre Grundfunktionen einstellen. Und es zeigt: In einer zunehmend polarisierten Welt werden selbst existenzielle Bedürfnisse zum Spielball ideologischer Grabenkämpfe.
Der Poker um das Überleben
Die Zahlen sind erschütternd: 8,5 bis 9 Milliarden Dollar kostet das SNAP-Programm (Supplemental Nutrition Assistance Program) monatlich. Seit Anfang November erhalten die Empfänger – darunter viele Kinder, Rentner und Working Poor – erstmals in der 60-jährigen Geschichte des Programms keine Leistungen mehr. Die Trump-Administration wollte zunächst nur 4,65 Milliarden Dollar als Notfinanzierung bereitstellen, also gerade mal die Hälfte.
Ein Bundesrichter in Rhode Island griff durch: Er ordnete an, dass die Regierung bis Freitag die vollen Mittel auszahlen muss – notfalls aus anderen Töpfen, etwa dem 23,35 Milliarden schweren Kindernährungsprogramm. Die Reaktion der Regierung? Ein Eilantrag beim Supreme Court, um genau das zu verhindern. Während Juristen über "Castle Doctrine" und "Stand Your Ground"-Gesetze debattieren, stehen Millionen Menschen vor leeren Kühlschränken.
Die politische Arithmetik dahinter ist brutal einfach: Demokraten verweigern ihre Stimmen zur Wiedereröffnung der Regierung, solange die Republikaner nicht zustimmen, auslaufende Gesundheitssubventionen im Rahmen von Obamacare zu verlängern. Die Republikaner wiederum werfen den Demokraten vor, Lebensmittelhilfe als politisches Druckmittel zu missbrauchen. Vizepräsident JD Vance behauptet gar, die Subventionen würden betrügerisch an illegale Einwanderer fließen – eine Behauptung, die von Demokraten und Budgetanalysten zurückgewiesen wird.
Die Kaskadeneffekte: Wenn der Staat als Wirtschaftsfaktor ausfällt
Was in Washington als politisches Schachspiel inszeniert wird, entfaltet in der Realwirtschaft verheerende Wirkung. Die Reuters-Interviews mit Trump-Wählern zeichnen ein Bild der schleichenden Erosion:
Joyce Kenney, 74, Vermieterin in Arizona, erlebt den "Dominoeffekt" hautnah: Ihre Patentochter, eine beurlaubte Bundesangestellte, kann nur noch zwei Drittel der 2.000 Dollar Miete zahlen. Gleichzeitig warten Kenneys Verwandte in Montana auf eine Erstattung vom Landwirtschaftsministerium für ihre Farm. "Wir haben auch Rechnungen zu bezahlen", sagen sie verzweifelt.
Steve Egan, Werbeartikel-Händler in Tampa, verlor bereits einen 4.000-Dollar-Auftrag, weil ein Veteranen-Krankenhaus seine Teilnahme an einem Festival absagen musste. Noch gravierender: Flugverzögerungen und längere Zollabfertigungszeiten zwingen ihn, die Vorlaufzeiten für Kunden zu halbieren – in einer Branche, in der Timing alles ist. "Wenn jemand etwas zu einem festen Termin braucht, sage ich ihm, er braucht jetzt viel mehr Zeit", erklärt er resigniert.
Robert Billups, 34, Buchhalter im Bundesstaat Washington, sieht sich einem schrumpfenden Arbeitsmarkt gegenüber. Seine Mutter, IRS-Auftragnehmerin, ist seit Mitte Oktober beurlaubt. "Sie ist sehr einfallsreich und hat Geld gespart", sagt Billups. "Aber wenn es länger dauert, wird es zum Problem. Alles über zwei Monate würde bedeuten: Okay, ich habe ein Problem."
Die Versicherungsbranche meldet bereits eine Zunahme von "Härtefallanträgen" – Bundesbedienstete, die sich Auto- oder Hausratversicherungen nicht mehr leisten können. Zahnbehandlungen werden verschoben, weil unklar ist, ob die öffentliche Krankenversicherung die Anträge noch rechtzeitig bearbeitet.
Europa als Kontrastprogramm: Spaniens liberale Wende
Während die USA ihre Sozialsysteme als politische Waffe einsetzen, geht Spanien den entgegengesetzten Weg – und das ausgerechnet in Zeiten, in denen der Rest Europas die Zügel anzieht. Im Mai verkürzte Madrid die Wartezeit für undokumentierte Migranten, bevor sie eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen können, und vereinfachte die legalen Einwanderungsverfahren drastisch.
Die Zahlen sind beeindruckend: Von rund 200.000 regularisierten Migranten 2024 soll die Zahl auf etwa 300.000 pro Jahr steigen – das entspricht 0,6 Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: Großbritannien reduzierte die Nettozuwanderung von 1,3 Prozent (2022) auf 0,6 Prozent (2024), Deutschland und Italien setzen auf schärfere Durchsetzung und Abschiebungen.
Die Kalkulation hinter Spaniens Strategie ist nüchtern ökonomisch: Mit einer alternden Bevölkerung und einem robusten Arbeitsmarkt (die Arbeitslosigkeit sinkt kontinuierlich) braucht das Land Arbeitskräfte. Capital Economics prognostiziert ein Wachstum der Erwerbsbevölkerung um fast 1,5 Prozent jährlich – getrieben durch Zuwanderung. Das BIP-Wachstum dürfte 2026 bei 2,5 Prozent und 2027 bei 2 Prozent liegen, deutlich über dem Eurozone-Durchschnitt von 1 Prozent.
Zwei Drittel der Neuankömmlinge 2023 kamen aus Lateinamerika, nur etwa 15 Prozent aus Afrika. Die sprachlichen und kulturellen Verbindungen zu Lateinamerika machen Spanien zu einem natürlichen Zielland – eine Dynamik, die sich durch schärfere US-Einwanderungsregeln noch verstärken könnte. Die anhaltende Wohnungsknappheit und steigenden Kosten könnten zwar abschreckend wirken, doch ähnliche Bedingungen in den 2000er Jahren hielten die Zuwanderung auch nicht auf.
Die politischen Risiken sind real: Die rechte VOX-Partei fordert härtere Regeln und könnte bei einer künftigen Koalition mit der konservativen Volkspartei Einfluss gewinnen. Doch selbst dann dürften Beschränkungen eher nordafrikanische als lateinamerikanische Zuwanderung treffen.
Der Haken: Die Zuwanderung stützt zwar das Wachstum, verbessert aber nicht die Produktivität. Ein großer Teil der ausländischen Arbeitskräfte hat niedrige Bildungsabschlüsse und arbeitet in Teilzeit oder geringer qualifizierten Jobs. Auch die Bildungsergebnisse von Einwandererkindern der zweiten Generation bleiben schwächer als die von Kindern einheimischer Eltern – ein Problem für die langfristige Produktivitätsentwicklung.
Syrien: Wenn alte Wunden wieder aufreißen
Während in Washington über Budgets gestritten wird und Spanien seine Türen öffnet, zeigt Syrien, wie schnell fragile Koexistenz in Gewalt umschlagen kann. Im Juli erschütterten sektiererische Kämpfe die südliche Provinz Sweida – einige der schlimmsten Ausbrüche seit dem Sturz von Baschar al-Assad. Über 1.000 Menschen starben, die meisten von ihnen Drusen. Zehntausende Beduinen und Drusen wurden vertrieben.
Die Geschichte der Familie Sbeih steht stellvertretend für das Trauma: Als drusische Milizen ihr Viertel angriffen, flohen sie zu drusischen Nachbarn, die tags zuvor Schutz versprochen hatten. "Die erste halbe Stunde fühlten wir uns sicher", erinnert sich Faisal Sbeih. Dann erschien ein drusischer Milizführer und übernahm das Kommando. "In diesem Moment wussten wir, dass wir Gefangene waren."
Drei Nächte wurden die Beduinen in einer Schule festgehalten. Als ihre Bewacher verschwanden und sie zu fliehen versuchten, fielen Schüsse. Faisals 20-jährige Tochter Malak, die am nächsten Tag hätte heiraten sollen, wurde getötet. Auch sein 70-jähriger Vater und die dreijährige Enkelin starben.
Die Familie lebt nun in einem Zelt auf den Feldern eines Bauern in der Nachbarprovinz Daraa. Faisal, der 17 Jahre im Libanon arbeitete, um in Umm Zeitoun ein Haus zu bauen und Vieh sowie Obst- und Getreideplantagen anzulegen, hat alles verloren. "Wie kann irgendjemand zurückgehen?", fragt er. "Sie haben uns zerstört."
Die syrische Regierung schätzt, dass rund 150.000 Drusen und 70.000 Beduinen vertrieben wurden. Sprecher der Beduinen beziffern ihre Zahl höher: Fast die gesamte Beduinen-Bevölkerung von Sweida – mindestens 120.000 Menschen – sei geflohen. Drusische Kämpfer kontrollieren nun weite Teile der Provinz, patrouillieren auf Straßen und leiten lokale Räte.
Eine Rückkehr erscheint fern. Beide Seiten berichten von niedergebrannten, geplünderten oder besetzten Häusern. Beide beschuldigen die jeweils andere Seite, Gefangene zu halten. Der führende drusische Geistliche Sheikh Hikmat al-Hajari lehnt jeden direkten Kontakt mit der Regierung ab und wirft ihr vor, eine "extremistische, terroristische Ideologie" zu vertreten – eine Anschuldigung, die das Informationsministerium als "Verleumdung" zurückweist.
"Die Menschen haben eine andere Seite ihrer Nachbarn gesehen", sagt Haid Haid vom Arab Reform Initiative. "Sie sehen sie jetzt als entmenschlicht." Ohne umfassende Bemühungen, die Narben der Kämpfe zu heilen, sei ein Zusammenleben kaum vorstellbar.
Was uns das über unsere Zeit sagt
Drei Geschichten, drei Kontinente, ein Muster: Die Institutionen, auf die wir uns verlassen – Sozialsysteme, Einwanderungspolitik, multiethnische Koexistenz –, sind fragiler, als wir glauben möchten. In den USA wird das Existenzminimum zum Verhandlungschip in einem ideologischen Poker. In Spanien setzt die Regierung auf wirtschaftlichen Pragmatismus, während der Rest Europas die Schotten dicht macht. In Syrien zerbricht in wenigen Tagen, was Generationen mühsam aufgebaut haben.
Die kommende Woche wird zeigen, ob der Supreme Court die Trump-Administration gewähren lässt – oder ob Millionen Amerikaner zumindest vorerst aufatmen können. In Riad tagt derweil die UN-Tourismusorganisation und feiert 50 Jahre internationale Zusammenarbeit, während wenige hundert Kilometer entfernt Familien in Zelten ausharren.
Vielleicht ist das die unbequeme Wahrheit unserer Zeit: Während wir über KI-gestützte Smart Cities und nachhaltige Entwicklungsziele sprechen, scheitern wir an den Grundlagen – daran, Menschen zu ernähren, sichere Zuflucht zu bieten und friedliches Zusammenleben zu ermöglichen.
Einen nachdenklichen Samstagabend wünscht Ihnen
Eduard Altmann








