Nobelpreis, Handelsstreit und die deutsche Industriekrise

Nobelpreis, Handelsstreit und die deutsche Industriekrise
Liebe Leserinnen und Leser,
während in Stockholm die Nobelpreise für bahnbrechende wissenschaftliche Durchbrüche vergeben werden, erleben wir in der Wirtschaftswelt gerade einen weniger noblen Wettstreit: Der Handelskonflikt zwischen den USA und China eskaliert auf neue Art und Weise. Diesmal geht es nicht nur um Zölle, sondern um die Kontrolle über kritische Rohstoffe – und Europa droht zwischen den Fronten zerrieben zu werden.
Die neue Währung der Macht: Seltene Erden
China hat seine Exportkontrollen auf seltene Erden ausgeweitet – ein Schachzug, der in Washington als "wirtschaftlicher Zwang" und "Griff nach der globalen Lieferkette" gebrandmarkt wird. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: US-Finanzminister Scott Bessent warf China vor, die Weltwirtschaft zu bremsen und stellte die Situation als "China gegen die Welt" dar.
Was nach typischer Handelsrhetorik klingt, hat einen ernsten Kern: Die betroffenen zwölf Metalle sind für die Produktion von Elektroautos, Windrädern und Halbleitern unverzichtbar. Für deutsche Unternehmen bedeutet das: Die grüne Transformation wird zur geopolitischen Gratwanderung. BASF, Siemens und Co. müssen sich fragen, wie sie ihre Lieferketten diversifizieren können, ohne dabei zwischen die Mühlsteine der Großmächte zu geraten.
Die Drohung von US-Präsident Trump, ab November weitere 100 Prozent Zölle auf chinesische Importe zu erheben, verschärft die Lage. Gleichzeitig signalisiert Bessent Gesprächsbereitschaft und kündigt ein Treffen zwischen Trump und Xi Jinping beim APEC-Gipfel Ende Oktober an. Ein klassisches Spiel mit Zuckerbrot und Peitsche – doch diesmal mit höherem Einsatz.
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Apropos geopolitische Lieferketten: Wer den Konflikt zwischen den USA und China verstehen will, sollte auch den Blick auf den Hochtechnologie-Sektor lenken. Mikrochips sind längst die neuen „Seltenen Erden“ – ohne sie stehen Autos, Fabriken und Cloud-Server still. Welche Unternehmen in diesem globalen Chip-Wettrüsten besonders profitieren könnten, zeigt eine aktuelle Analyse zum europäischen „Chip-Act“ und der möglichen neuen Nvidia-Aktie.
Der Nobelpreis als Wegweiser für die Industrie
Inmitten dieser geopolitischen Spannungen sendet die Wissenschaft ein hoffnungsvolles Signal: Der Chemie-Nobelpreis ging an die Entwickler metallorganischer Gerüste (MOFs) – eine Technologie mit enormem Potenzial für die CO2-Abscheidung. Das kanadische Unternehmen Svante nutzt bereits das MOF-Material CALF-20 in seinen Filtern zur industriellen Kohlenstoffabscheidung.
Die Auszeichnung ist mehr als akademische Anerkennung. Sie unterstreicht das wirtschaftliche Potenzial einer Technologie, die angesichts verschärfter Klimaziele zur Schlüsseltechnologie werden könnte. Für europäische Industrieunternehmen eröffnet sich hier ein Milliardenmarkt – vorausgesetzt, sie können die Technologie schnell genug skalieren.
Afrikas stille Revolution
Während sich die Weltöffentlichkeit auf den Handelsstreit fixiert, vollzieht sich in Afrika eine bemerkenswerte Transformation. Der neue "Resilient Economies Index" zeigt: Afrikanische Volkswirtschaften haben bereits 87 Prozent ihrer Wirtschaftsaktivität klimaresilient gestaltet. Länder wie Kenia, Uganda und Mosambik führen diese Bewegung an – nicht trotz, sondern wegen ihrer Erfahrung mit Klimakatastrophen.
Besonders aufschlussreich: 62 Prozent der Anpassungsfinanzierung kommt in Form von Schulden – eine "Schuldenmauer", die weitere Investitionen blockiert. Hier liegt eine Chance für europäische Entwicklungsbanken und Impact-Investoren, neue Finanzierungsmodelle zu entwickeln, die nicht nur Rendite, sondern auch Resilienz schaffen.
Der Kontinent zeigt, was möglich ist, wenn Anpassung zur Priorität wird: Burundi, einst synonym für Armut und Konflikte, gehört heute zu den Spitzenreitern in Sachen Klimaresilienz. Eine Lektion, die auch für europäische Regionen relevant wird, während Extremwetter zunimmt.
Die digitale Kluft in deutschen Fabriken
Zurück nach Europa, wo eine Studie von Perceptyx eine besorgniserregende Kluft offenbart: Während 47 Prozent der Manager glauben, ihre Unternehmen seien bereit für KI, stimmen dem nur 16 Prozent der Arbeiter zu. Ein Drittel der Manager gibt zu, Sicherheitstrainings zu überspringen – bei den Arbeitern sind es nur 12 Prozent.
Diese Diskrepanz ist symptomatisch für ein größeres Problem der deutschen Industrie: Die digitale Transformation scheitert nicht an der Technologie, sondern an der menschlichen Komponente. Während Manager von Effizienzgewinnen träumen, fürchten Arbeiter um ihre Jobs und verstehen oft nicht, welche Rolle KI spielen soll.
Die Zahlen aus Großbritannien mögen auf den ersten Blick weit weg erscheinen, doch deutsche Unternehmen berichten Ähnliches. Bei Volkswagen, Bosch und anderen Industriegiganten wächst die Erkenntnis: Ohne die Mitnahme der Belegschaft wird die KI-Revolution zur Innovationsbremse.
Frankreichs Rentenpokern
In Paris spielt sich derweil ein Drama ab, das für ganz Europa lehrreich ist: Premierminister Sébastien Lecornu rettet sich vor einem Misstrauensvotum, indem er Macrons Rentenreform opfert. Die Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre – in Deutschland würde man davon träumen – wird ausgesetzt.
Der Preis für diese politische Überlebenstaktik ist hoch: Frankreichs Schuldenquote liegt bei 114 Prozent der Wirtschaftsleistung, das Haushaltsdefizit bei 5,8 Prozent. Die EU hat bereits ein Defizitverfahren eingeleitet. Die Botschaft an Berlin ist klar: Auch Deutschland wird seine Sozialreformen nicht ewig aufschieben können, selbst wenn der politische Preis hoch ist.
Ausblick: Herbst der Entscheidungen
Die kommenden Wochen werden zeigen, ob sich der Handelskonflikt weiter zuspitzt oder ob beim APEC-Gipfel eine Entspannung gelingt. Für deutsche Unternehmen bleibt die Diversifizierung der Lieferketten oberste Priorität – egal wie das Treffen zwischen Trump und Xi ausgeht.
Am Donnerstag und Freitag trifft sich der Europäische Rat in Brüssel. Kanzler Merz will dort für die Nutzung eingefrorener russischer Vermögen zur Ukraine-Unterstützung werben und gleichzeitig weniger Regulierung aus Brüssel fordern. Ein Spagat, der symptomatisch ist für Europas Position: Man will globaler Akteur sein, ohne die eigenen Komfortzonen zu verlassen.
Die wirkliche Frage ist nicht, ob Europa zwischen den Großmächten bestehen kann, sondern ob es den Mut findet, seine eigenen Stärken auszuspielen. Die Nobelpreis-gekrönte MOF-Technologie, Afrikas Resilienz-Modelle und die Lehren aus Frankreichs Reformchaos – all das zeigt Wege auf. Es liegt an uns, sie zu gehen.
Mit nachdenklichen Grüßen
Eduard Altmann