Das Prädikat „nachhaltig“ zieht in der Werbung für Geldanlagen. So sehr, dass die Finanzindustrie mehr Kapital einsammelt, als die Realwirtschaft tatsächlich unter Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien verwenden kann. Dazu gibt es reichlich Missverständnisse und Uneinigkeit darüber, was Nachhaltigkeit überhaupt bedeutet, geschweige denn, welche Kriterien dafür gelten sollten. Die unterschiedlichen Standards der Ratingagenturen erschweren Anlegern die Entscheidung, wo sie mit gutem Gewissen investieren können.

Der Klimawandel ist zunehmend als Fakt akzeptiert. Die Politik reagiert. Nach dem Pariser Abkommen 2015 wurde eine große Reihe von Absichtserklärungen, Verordnungen, Richtlinien und Gesetzen verabschiedet, die die Erderwärmung verlangsamen sollen. Da Kapital den größten Lenkungseffekt aufweist, ist die Finanzbranche im Speziellen von diesen Reformen betroffen.

Zügig hat sie passende Produkte entwickelt. Vermarktet werden die entsprechenden Fonds und Zertifikate unter dem Oberbegriff ESG, der englischen Abkürzung für Environment (Umwelt), Social (Gesellschaft) und Governance (gute Unternehmensführung). Diese drei Dimensionen werden untersucht, um Unternehmen in puncto Nachhaltigkeit zu bewerten.

Marketingerfolg wird zum Problem.

Der Erfolg dieser Bemühungen wird inzwischen zum Problem: Das Volumen von Nachhaltigkeitsfonds ist nach Angaben von Morningstar in den vergangenen fünf Jahren um 4000 Mrd. Euro gewachsen. Doch was bringt dieses immense Wachstum und wohin gehen die Gelder? Der weltweite CO2-Ausstoß stieg und steigt weiterhin - mit Ausnahme der „Corona-Delle“.

Da Nachhaltigkeit kein fest definierter Begriff ist, kommt es immer wieder zu Missverständnissen. Privatanleger denken in erster Linie an ökologische Aspekte. Ökonomen definieren hingegen den dauerhaften, konstanten wirtschaftlichen Erfolg als „nachhaltig“. Diesem Spannungsfeld zwischen Kapitalgebern und Wirtschaft wird versucht mit „ESG-Ratings“ entgegenzuwirken.

Die Ratingagenturen gießen den komplexen Sachverhalt in Zahlen, um dem Investor eine „einfache“ Möglichkeit zu geben, zu prüfen, ob sein Investment das Prädikat nachhaltig verdient. Dabei gehen sie jedoch so unterschiedlich vor, dass ein Unternehmen bei der einen Ratingagentur als nachhaltig deklariert wird, bei der anderen jedoch durchfällt.

Große Diskrepanzen bei Nachhaltigkeits-Ratings.

Während die großen Ratingagenturen bei der Vergabe der klassischen Bonitätsurteile zu beinahe deckungsgleichen Ergebnissen kommen (98 Prozent), weisen die weltweit größten ESG-Ratingagenturen bei ihren Bewertungen einzelner Unternehmen zur Nachhaltigkeit lediglich eine Übereinstimmung von 54 Prozent aus. Diese Diskrepanz macht deutlich, wie unterschiedlich die Ansätze offenbar sind. Nachhaltige Portfolios können daher sehr unterschiedlich aussehen und Werte enthalten, die der Investor im Vorfeld ausgeschlossen hätte.

Der Ukraine-Krieg, die Energiekrise und der Klimawandel stellen zudem vermeintliche Gewissheiten infrage. Ist ein Atomkonzern vielleicht doch nachhaltig? Nach den Brüsseler EU-Beschlüssen ist diese Frage aktuell mit „Ja“ zu beantworten. Zur Verteidigung von Demokratie und Freiheit erscheinen auch Rüstungskonzerne in einem neuen Licht. Wie nachhaltig ein Unternehmen wirklich ist, hängt von vielen Faktoren ab und ist letztendlich eine Frage des persönlichen Blickwinkels.

Fazit: Ein „Weiter so!“ darf es bei den Ratingagenturen nicht geben. Investoren benötigen einheitliche international anerkannte Standards zur Beurteilung, ob es sich um ein nachhaltiges Investment handelt. Erst diese könnten dann zum zielgerichteten Kapitalfluss und daraus resultierend zur politisch gewollten „Verhaltensänderung“ der Unternehmen führen.

Diesen und weitere Vermögensverwalter mit Meinungen und Anlagestrategien finden Sie auf www.v-check.de.

 

Aus dem Börse Express PDF vom 16.03.2023 

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