Guten Mittag,

während in Washington die Weichen für eine neue Ära der Handelspolitik gestellt werden, offenbart sich in Europa ein Bild der Fragilität: Infrastrukturprojekte geraten ins Stocken, die britische Inflation will nicht weichen, und in den Chefetagen multinationaler Konzerne herrscht Planungsunsicherheit. Was auf den ersten Blick wie eine Ansammlung unverbundener Schlagzeilen wirkt, fügt sich bei genauerem Hinsehen zu einem Mosaik zusammen – einem Bild von einem Kontinent, der zwischen Beharrungskräften und Anpassungszwang navigiert.

Drei Entwicklungen stechen heute besonders hervor: Stuttgart 21 wird erneut verschoben und dokumentiert damit symptomatisch die Schwächen europäischer Großprojekte. Die britische Inflation verharrt über Zielmarke und zwingt die Bank of England zu einem Balanceakt. Und aus den USA erreichen uns Signale einer Wirtschaftspolitik, die europäische Unternehmen zu strategischen Neuausrichtungen zwingt. Lassen Sie uns eintauchen.

Stuttgart 21: Anatomie eines Scheiterns auf Raten

Es ist eine jener Geschichten, die man in Lehrbüchern über Projektmanagement als Negativbeispiel findet – nur dass sie sich in Echtzeit abspielt. Die Deutsche Bahn verschiebt die Eröffnung von Stuttgart 21 erneut. Ursprünglich für 2019 geplant, sollte der Tiefbahnhof nun im Dezember 2026 zumindest teilweise in Betrieb gehen. Daraus wird nichts. Technische Probleme bei der Digitalisierung und beim Bau selbst machen einen Strich durch die Rechnung.

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Die Kostensteigerungen lesen sich wie eine Chronik der Fehlkalkulation: 2009 waren 4,5 Milliarden Euro veranschlagt, aktuell steht die Uhr bei 11,3 Milliarden Euro – und der Puffer von 500 Millionen ist praktisch aufgebraucht. Das Verwaltungsgericht Baden-Württemberg hat der Bahn im August eine klare Ansage gemacht: Die Mehrkosten trägt sie allein. Die bundeseigene Bahn kündigte Ende Oktober an, nicht weiter gegen das Urteil vorzugehen – ein stilles Eingeständnis der Niederlage.

Was hier sichtbar wird, geht weit über einen verspäteten Bahnhof hinaus. Stuttgart 21 steht exemplarisch für ein strukturelles Problem: Europas Infrastrukturprojekte leiden unter einer toxischen Mischung aus politischem Wunschdenken, bürokratischer Trägheit und technischer Überforderung. Die Digitalisierung des Bahnknotens – europaweit ein Novum – erweist sich als komplexer als gedacht. Nur 18 Prozent der Unternehmen fühlen sich auf die EU-KI-Verordnung vorbereitet, zeigt eine aktuelle Umfrage. Bei Stuttgart 21 wird diese Unvorbereitetheit in Beton gegossen.

Die volkswirtschaftlichen Kosten sind immens: Jede Verzögerung bedeutet entgangene Produktivitätsgewinne, verpasste Emissionsreduktion im Verkehrssektor und erodierendes Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, Großprojekte zu stemmen. In einer Zeit, in der Europa massiv in grüne Infrastruktur investieren muss, um klimapolitische Ziele zu erreichen, ist das ein Alarmsignal.

Großbritannien: Die Inflation, die nicht gehen will

Zur gleichen Zeit, keine 1.000 Kilometer nordwestlich, ringt die Bank of England mit einem hartnäckigen Problem. Die britische Inflation ist im Oktober auf 3,6 Prozent gefallen – ein Fortschritt gegenüber den 3,8 Prozent im September, aber eben auch 0,1 Prozentpunkte über der Prognose von 3,5 Prozent. Die Kerninflation, die volatile Energie- und Lebensmittelpreise ausklammert, sank von 3,5 auf 3,4 Prozent.

Das klingt nach Fortschritt, ist aber zu wenig für Entwarnung. Besonders bemerkenswert: Während die Großhandelspreise für Truthähne sinken – gut für das traditionelle Thanksgiving-Dinner –, explodieren die Preise für frisches Gemüse. Ein Gemüsetablett verteuerte sich um 61 Prozent, Süßkartoffeln um 37 Prozent. Hurrikane in North Carolina, dem größten Süßkartoffel-Anbaugebiet der USA, haben die Ernte dezimiert. Globale Lieferketten zeigen sich fragil, und die Preissignale erreichen britische Supermärkte mit voller Wucht.

Die Dienstleistungsinflation – ein Schlüsselindikator für die BoE – verharrte bei 4,5 Prozent. Das ist zu hoch, um Spielraum für aggressive Zinssenkungen zu geben, aber niedrig genug, um eine weitere Straffung unwahrscheinlich zu machen. Die Märkte preisen mittlerweile eine Zinssenkung im Dezember ein. Die schwachen BIP-Zahlen des dritten Quartals, ein sich abschwächender Arbeitsmarkt und die Aussicht auf weitere fiskalische Konsolidierung im Herbstbudget von Kanzlerin Rachel Reeves geben der BoE Rückenwind.

Doch die Unsicherheit bleibt groß. Die britische Wirtschaft ist post-Brexit anfälliger für externe Schocks, die Produktivität stagniert, und die Lohnentwicklung bleibt angespannt. Während die EZB und die Fed ihre geldpolitischen Spielräume vorsichtig ausloten, sitzt die BoE zwischen den Stühlen: Zu frühe Lockerung riskiert eine Rückkehr der Inflation, zu späte Lockerung würde eine ohnehin fragile Konjunktur weiter belasten.

Trump 2.0: Die Rückkehr der Unberechenbarkeit

Und dann ist da noch Washington. Die Trump-Administration hat ihre Amtszeit mit einer Welle von Politikänderungen begonnen, die europäische Unternehmen in Alarmbereitschaft versetzen. Zwei Drittel der europäischen Firmen mit US-Operationen haben laut einer aktuellen Umfrage bereits Anpassungen vorgenommen: 25 Prozent haben Geschäftsreisen in die USA reduziert oder gestrichen, weitere 25 Prozent ihre US-Aktivitäten zurückgefahren.

Die Gründe sind vielfältig: verschärfte Einwanderungspolitik, die Fachkräftegewinnung erschwert; eine aggressive Deregulierungsagenda, die Standards senkt und europäische Firmen vor Compliance-Dilemmas stellt; und eine Handelspolitik, die Zölle als Verhandlungsinstrument nutzt. Besonders brisant: 79 Prozent der Unternehmen mit US-Präsenz kämpfen mit den divergierenden Ansätzen zu Diversität, Gleichstellung und Inklusion (DEI). Was in Europa oft gesetzlich vorgeschrieben oder gesellschaftlich erwartet wird, gerät in den USA unter politischen Beschuss.

Die Folge: 69 Prozent der Firmen mit DEI-Programmen erwägen Rücknahmen oder Anpassungen. Das ist mehr als kosmetische Korrektur – es ist ein Rückzug aus Werten, die in Europa als Grundlage moderner Unternehmensführung gelten. Für börsennotierte Konzerne entsteht ein Dilemma: Wie navigiert man zwischen europäischen ESG-Anforderungen und amerikanischer Anti-Woke-Politik?

Die makroökonomischen Implikationen sind erheblich. Wenn europäische Unternehmen ihre US-Investitionen zurückfahren, schwächt das die transatlantische Wirtschaftsverflechtung – historisch ein Stabilitätsanker. Gleichzeitig signalisiert es eine Fragmentierung der westlichen Wirtschaftsordnung. China beobachtet aufmerksam.

Zwischen Beharrung und Aufbruch

Was verbindet diese drei Geschichten? Sie alle erzählen von Systemen unter Stress. Stuttgart 21 zeigt, wie schwer sich Europa mit der Umsetzung ambitionierter Projekte tut – ein Problem, das weit über Bahnhöfe hinausgeht und die Energiewende, die digitale Transformation und die Verteidigungsfähigkeit betrifft. Die britische Inflation dokumentiert, wie externe Schocks – Klimawandel, Lieferkettenbrüche – die geldpolitische Handlungsfähigkeit einschränken. Und die Trump-Effekte verdeutlichen, wie geopolitische Verschiebungen Geschäftsmodelle in Frage stellen.

Europa steht an einem Wendepunkt. Die Frage ist nicht, ob Anpassung nötig ist – sie ist unausweichlich. Die Frage ist, ob der Kontinent die Geschwindigkeit und Entschlossenheit aufbringt, um nicht nur zu reagieren, sondern zu gestalten. Stuttgart 21 wird irgendwann fertig werden. Die Inflation wird irgendwann auf 2 Prozent sinken. Und europäische Unternehmen werden Wege finden, mit amerikanischer Unberechenbarkeit zu leben. Aber die Zeit, die dabei verstreicht, ist Zeit, die fehlt – Zeit, um Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, um Wohlstand zu mehren, um Zukunft zu bauen.

Morgen blicken die Märkte auf die EZB-Sitzung am Donnerstag, bei der weitere Signale zur Zinspolitik erwartet werden. Gleichzeitig werden in Brüssel die Verhandlungen über das nächste mehrjährige Finanzbudget fortgesetzt – ein Lackmustest für Europas Fähigkeit, gemeinsame Prioritäten zu setzen. Und in London wird Kanzlerin Reeves ihr Herbstbudget vorstellen, das über die fiskalische Ausrichtung Großbritanniens für die kommenden Jahre entscheidet.

Eines ist sicher: Langweilig wird es nicht.

Bis morgen,
Eduard Altmann

Mittwoch, 19. November 2025