Krieg, Kohle und das Chaos der Märkte

Liebe Leserinnen und Leser,

während sich die Welt an diesem Novemberwochenende auf den Winteranfang einstellt, zeigen die Märkte keine Spur von Winterschlaf. Im Gegenteil: Von der Ukraine bis Washington, von den Rohstoffbörsen bis zu den Spielzeugherstellern – überall brodelt es. Und mittendrin? Eine Handvoll mutiger Mittelständler, die dem mächtigsten Mann der Welt die Stirn bieten.

Pokrowsk: Der Kampf um Europas letzte Kokskohle

Die ostukrainische Stadt Pokrowsk ist mehr als nur ein weiterer Punkt auf der Kriegslandkarte. Sie ist das Herz der ukrainischen Stahlindustrie – oder besser gesagt: Sie war es. Denn die einzige noch verbliebene Kokskohlemine des Landes, betrieben vom Stahlriesen Metinvest, steht still. Russische Truppen haben die Stadt praktisch eingekesselt, ukrainische Spezialeinheiten wurden in verzweifelten Gegenangriffen aufgerieben.

Was bedeutet das für uns? Mehr als man zunächst denkt. Kokskohle ist der Lebensnerv der Stahlproduktion – ohne sie keine Hochöfen, ohne Hochöfen kein Stahl. Die europäische Stahlindustrie, ohnehin gebeutelt von Energiekosten und chinesischer Konkurrenz, verliert eine weitere Bezugsquelle. ArcelorMittal, ThyssenKrupp und Co. müssen sich nach Alternativen umsehen – und die kosten.

Die "graue Zone", wie russische Militärblogger das umkämpfte Gebiet nennen, ist ein Vorgeschmack auf das, was der europäischen Schwerindustrie noch bevorsteht. Denn selbst wenn morgen Frieden wäre: Die Infrastruktur ist zerstört, die Investoren verschreckt, die Lieferketten zerrissen.

David gegen Donald: Ein Spielzeughersteller fordert Trump heraus

Rick Woldenberg ist kein Mann großer Worte, aber großer Taten. Der Chef des Familienunternehmens Learning Resources aus Chicago hat getan, was sich Apple, Amazon und Microsoft nicht trauen: Er klagt gegen Präsident Trumps "Liberation Day"-Zölle. Am kommenden Mittwoch wird der Supreme Court die Argumente anhören.

"Ich bin nicht bereit zuzulassen, dass Politiker zerstören, was wir über Generationen aufgebaut haben", sagt Woldenberg. Seine Anwaltsrechnungen? Millionenhöhe. Seine Erfolgschancen? Ungewiss. Aber der Mann hat einen Punkt: Trumps Nutzung des International Emergency Economic Powers Act von 1977 für pauschale Importzölle ist juristisches Neuland – oder besser gesagt: vermintes Gelände.

Die Ironie dabei? Während Großkonzerne ihre Lobbybüros in Washington aktivieren und auf Ausnahmeregelungen hoffen, sind es die Kleinen, die vor Gericht ziehen. 700 kleine und mittlere Unternehmen haben sich der Klage angeschlossen. David Levi von MicroKits musste seine Produktion drosseln, seinen einzigen Teilzeitmitarbeiter von 25 auf 15 Stunden reduzieren. Statt der anvisierten Million Dollar Umsatz werden es dieses Jahr nur 400.000.

Das stille Drama der Lebensmittelhilfe

41 Millionen Amerikaner wachen dieser Tage mit einer bangen Frage auf: Gibt es im November noch Lebensmittelmarken? Der Government Shutdown hat das SNAP-Programm (Supplemental Nutrition Assistance Program) lahmgelegt. Acht Milliarden Dollar monatlich – einfach weg.

Roma Hammonds aus Tennessee, 60 Jahre alt und körperlich behindert, versorgt mit 563 Dollar Lebensmittelhilfe ihre vier Enkelkinder. "Ich weiß nicht, was ich tun soll", sagt sie. Und Tennessee? Kann nicht helfen. Die meisten Bundesstaaten haben weder die technische Infrastruktur noch das Geld, um einzuspringen. Nur eine Handvoll – Delaware, New Mexico, Louisiana, Virginia und Vermont – kratzen Notprogramme zusammen.

Für uns Europäer mag das befremdlich klingen. Aber es zeigt, wie fragil das amerikanische Sozialsystem ist – und wie schnell politische Grabenkämpfe zu humanitären Krisen werden können. Die Gerichte haben zwar am Freitag eine Notfinanzierung angeordnet, aber die Umsetzung? Völlig unklar.

Rohstoffmärkte: Wenn Fakten zu Fiktion werden

Die Rohstoffmärkte spielten diese Woche verrückt – oder taten sie das? Eine nähere Betrachtung offenbart ein Problem, das symptomatisch für unsere Zeit ist: Falschinformationen, die sich schneller verbreiten als ihre Korrekturen.

Ja, Erdgas legte zu – aber nicht die kolportierten 24 Prozent. Der Henry Hub notierte sogar leichter im Minus, während der europäische TTF-Preis nur moderat stieg. Gold verlor etwa 2,4 Prozent, Orangensaft tatsächlich rund 10 Prozent. Aber Sojabohnenmehl? Plus 9 Prozent, nicht minus.

Was lernen wir daraus? In Zeiten von Algo-Trading und Social-Media-getriebenen Märkten wird die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion zur Überlebensfrage. Ein falscher Tweet, eine fehlerhafte Schlagzeile – und Milliarden wandern in die falschen Taschen.

China: Der Abstieg des Drachens

"China ist nicht länger ein Outperformer unter den Schwellenländern", konstatiert Capital Economics nüchtern. Nach Jahrzehnten zweistelliger Wachstumsraten prognostiziert die Investmentbank für 2030 nur noch zwei Prozent BIP-Wachstum. Das ist nicht nur eine Zahl – es ist eine Zeitenwende.

Die Implikationen für Europa sind gewaltig. Deutsche Maschinenbauer, die jahrzehntelang vom chinesischen Infrastrukturboom profitierten, müssen umdenken. BASF, Siemens, Volkswagen – alle haben ihre China-Strategien auf kontinuierliches Wachstum ausgerichtet. Diese Rechnung geht nicht mehr auf.

Stattdessen rücken Indien, Vietnam und Nordafrika in den Fokus. "Other EM Manufacturers", wie Capital Economics sie nennt, könnten jährlich um fünf Prozent wachsen. Aber sind unsere Unternehmen darauf vorbereitet? Haben sie die Kontakte, die Strukturen, das Verständnis für diese Märkte?


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Während China an Dynamik verliert, entsteht an anderer Stelle die vielleicht spannendste Wachstumsstory der nächsten Jahre: der globale Chip-Sektor. Ein geopolitisches Wettrennen, das die Wertschöpfungsketten neu ordnet – und Chancen eröffnet, wie sie sonst nur einmal im Jahrzehnt vorkommen. Wer verstehen will, welche Akteure davon profitieren und warum europäische Tech-Unternehmen plötzlich so gefragt sind, findet eine fundierte Analyse in der neuen Studie "Die neue Nvidia".


Der Blick nach vorn

Die kommende Woche verspricht keine Atempause. Am Mittwoch entscheidet der Supreme Court über Trumps Zölle – ein Urteil mit Signalwirkung für den globalen Handel. Die EZB-Sitzung liegt zwar schon hinter uns, aber die Nachwirkungen der Zinsdiskussion werden die Märkte weiter beschäftigen. Und in der Ukraine? Dort entscheidet sich nicht nur das Schicksal einer Stadt, sondern möglicherweise die Zukunft der europäischen Rohstoffversorgung.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass wir in einer Welt leben, in der ein Spielzeughersteller aus Chicago mehr Mut zeigt als die Fortune 500, in der Millionen Amerikaner nicht wissen, ob sie nächste Woche noch essen können, und in der die vermeintlich unaufhaltsame chinesische Wachstumsmaschine ins Stottern gerät.

Vielleicht ist es an der Zeit, unsere Gewissheiten zu hinterfragen. Die Märkte tun es bereits.

Nachdenkliche Grüße und ein erholsames Wochenende wünscht Ihnen

Ihr Eduard Altmann