Neue Rekorde an den Weltbörsen sind keine Schimäre, sondern eine realistische Erwartung“, lautete einer der Aussagen Heiko Thiemes beim Wiener Börsentag 2023. Er begründet seine Aussage mit dem Hinweis auf die Überfülle negativer medialer Berichterstattungen über die aktuelle Lage und die mittelfristigen Erwartungen der Wirtschaft. Die derzeit hohen Inflationsraten, die den weltführenden Zentralbanken und der Politik Sorgen bereiten, würden heuer allmählich auf 5 Prozent sinken und sich 2025 auf einem erträglicheren Niveau einpendeln.

Die Welt ist besser als sie die Medien schildern.

Thieme verweist auf die Relativität des Begriffs „Teuerung“: In der Zeitspanne von 1950 bis 2022 sei der Preis für Halbleiterprodukte um mehr als 90 Prozent gesunken; weitere Preise, etwa die Gebühren für Interkontinentaltelefonate oder Flugreisen, seien in den letzten 70 Jahren ebenfalls beträchtlich zurückgegangen; demgegenüber seien die Preise für täglich benötigte Lebensmittel wie Eier oder Butter stark in die Höhe geschossen. Das falle uns heute stark in die Augen, während wir die enormen Verbilligungen, siehe vorher, vergessen haben.

„Wir reden die Dinge viel negativer als sie wirklich sind“, rügt Thieme. „Die Welt ist in besserer Ordnung als wir sie aus Mediensicht geschildert bekommen! Ich bin und bleibe grundsätzlich optimistisch. Denn die Indizes der Börsen steigen über die Erwartungen an. Zugegeben, auf der Straße zum weiteren Aufstieg gibt es noch mehrere Schlaglöcher, und die Volatilität der Kurse bleibt vorderhand hoch. Aber auch diese Effekte werden allmählich überwunden werden. Es gibt eine Menge guter Titel an den Börsen – Thieme erwähnt beispielsweise Fresenius, Volkswagen, Amazon, Vonovia --, diese würden langfristig tendenziell nach oben gehen! „Daher sind neue Rekorde an den Börsen für mich eine durchaus realistische Erwartung.“

Die Anlageprinzipien bleiben unverändert.

Thieme bleibt bei seinen altbekannten Anlageprinzipien: Man sollte immer nur Titel kaufen, deren Kurs fällt; man sollte nie Werte bei steigenden Kursen kaufen. „Ich bin ein typischer Antizykliker und rate jedem dazu, ebenfalls antizyklisch zu investieren. Man soll nie große Pakete kaufen, sondern in drei kleineren Tranchen von je 1 Prozent bei weiter fallenden Kursen.“ Das Wertpapierdepot sollte stets überschaubar bleiben, rät Thieme; maximal 30 Positionen im Portefeuille sind für einen privaten Anleger genug. Das ist ähnlich wie beim Alphabet. Auch Goethe, Schiller und Shakespeare haben mit 26 Buchstaben Werke geschrieben, die heute noch die Menschen inspirieren. Wenn man in eine Aktie direkt investiert, sollte man sich immer fragen: Würde ich vom Vorstand des Unternehmens ein gebrauchtes Auto kaufen? Wenn nein, sollte man auch nicht in dessen Aktien investieren.

Kritik an der Europäischen Union.

Heiko Thieme reagiert negativ auf die Frage, wie er die von der Europäischen Union ihren 27 Mitgliedern zum Jahresende 2022 aufs Auge gedrückte rückwirkende Übergewinnsteuer beurteilt; deren Ergebnis soll bekanntlich den unter der Energieverteuerung leidenden privaten Haushalten als Trostpflaster zugewiesen werden. „Es ist falsch, Leute oder Unternehmen zu bestrafen, die eine gute Leistung erbringen und in ihrem Geschäft gute Erträge erwirtschaften. Die Politik mischt sich da in den Zyklus von Rohstoffpreisen ein und verzerrt so den gesamten Markt. Eine derartige Steuer kommt mir vor, wie wenn beim Fußballspielen eine Mannschaft bestraft würde, wenn sie mehr als drei Tore schießt. Das Gegenteil wäre wünschenswert: Jede gute Leistung gehört gefördert, nicht bestraft. Wer so etwas tut, schädigt das Weiterkommen aller. In einem freien demokratischen Staat, und das ist eiserner Grundsatz für alle Mitglieder der Europäischen Union, soll jeder bei Einhaltung der Gesetze so viel Gewinn machen, wie er kann, vorausgesetzt man handelt legal und zahlt auch Steuern für die Gewinne, von denen die Bürger profitieren.“

Thieme setzt sich grundsätzlich für einen allgemeinen Steuersatz von 20 Prozent ein; dies gelte sowohl für das Privateinkommen von mehr als 20.000 Euro und bei Unternehmen ebenfalls. Er unterstützt auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens für diejenigen, die weniger als 20.000 Euro im Jahr verdienen. Damit könne man die Lebensbasis für jedermann absichern und vermeiden, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung am Monatsende keine finanziellen Reserven mehr haben.

Zusammenrücken von Europa und Asien.

Eine weitere Kritik übt Thieme an der Europäischen Union: Sie bemühe sich zu wenig um eine nachhaltige Annäherung an die derzeit bevölkerungsreichste Wirtschaftsmacht der Erde, die Volksrepublik China. „Ich darf nicht 1,4 Milliarden Menschen von insgesamt 8 Milliarden auf der Erde einfach ausklammern. Wir müssen einen Dialog mit ihnen führen, und der darf nicht in kriegerische Auseinandersetzungen münden. Wir haben auch immer wieder Auseinandersetzungen zwischen China und Indien; auch das muss endlich diplomatisch gelöst werden. Es wäre fatal für Europa, wenn es China als Feind ansähe. In Bezug auf Taiwan würde er es begrüßen, wenn China die inzwischen rund 80-jährige Autonomie respektieren würde, obwohl es historisch betrachtet ein Teil von China ist. Die Chinesen sind mit einem Anteil von 17 bis 18 Prozent der Weltbevölkerung ein aussichtsreicher Partner, dessen technische Entwicklung und Wirtschaftswachstum in den nächsten Jahren alle Erwartungen übersteigen wird. Europa unterschätzt bislang dieses enorme Potenzial, statt es vernünftig zu nutzen!“

Dasselbe würde in absehbarer Zukunft für Indien gelten. Thieme sagt: Indiens Bevölkerung habe zahlenmäßig zwar jene von China überholt, aber dieses Land sei technisch noch nicht voll entwickelt und liege verglichen nach dem Bruttoinlandsprodukt weit hinter China zurück. Indien werde noch 20 bis 30 Jahre benötigen, diesbezüglich mit China gleichzuziehen. „Die Globalisierung der Erde, die zur Zeit eher negativ gesehen wird, ist eine Realität, von der jeder profitiert. Der interkontinentale Handel auf dieser Erde darf nicht behindert werden; Europa darf sich nicht davon ausschließen! Aber es muss geschlossen auftreten, nicht jedes EU-Land einzeln! In der Form von Einzelländern ist Europa ein Nobody, egal wie stark wir uns als Exporteure fühlen! Erst mit seinen insgesamt fast 450 Millionen Menschen stellt Europa eine global ernsthafte Macht dar“, betont Thieme.

Spionageverdacht ist kein Hindernis.

Aktuell wird gegenwärtig gegen China wegen der dort beheimateten Plattform Tik Tok, die als gefährliches Spionageinstrument der Chinesen mit Sperren durch mehrere Staaten bedroht wird, argumentiert. Heiko Thieme hält davon wenig. „Wenn man diese Vermutung ernst nimmt, wäre vieles, was man aus einem anderen Land einführt, Spionage. Produkte aus den USA könnte man ebenso verdächtigen wie Tik Tok. Spionage hat es immer gegeben und wird es leider weiterhin geben, solange auf der Erde unterschiedliche Länder existieren. England und Deutschland haben sich einander schon im ersten Weltkrieg gegenseitig die Patente gestohlen, um technisch besser voranzukommen“.

Thieme erinnert an das Beispiel von China, das sich als weltweit führende Nation im 16. Jahrhundert freiwillig aus dem Welthandel zurückgezogen hatte und damit im 19. Jahrhundert zur Belanglosigkeit reduziert worden war. Erst nach Mao Tsedong hat Deng Xiaoping diese Haltung korrigiert und China sei innerhalb von 50 Jahren wieder an die Weltspitze vor die USA gerückt. Thieme: „Tik Tok ist der moderne Trend, und wenn man zusieht, wie die Jugend der Welt diese Plattform stürmt und als Ablöse von Facebook benutzt, kann man sich kaum dagegen wehren. Man muss nur darauf sehen, ob uns die von Tik Tok gebotenen Informationen zu Fehlreaktionen führen bzw. uns zu Spionage anleiten. Das ist gerade jetzt hochaktuell, wo wir erfahren, dass auch die USA ihre Verbündeten, auch Deutschland und Österreich, ausspionieren. Das scheint heute zum Tagesgeschäft zu zählen. Industriespionage findet tagtäglich statt. Das ist die Realität der Globalisierung. Trotzdem bleibe ich dabei: Die Globalisierung ist eine Lösung und kein Hindernis, und jeder von uns profitiert davon!“

Kaum weitere Bankenpleiten zu befürchten.

In den USA gibt es zur Zeit rund 4000 Banken. Dass sich auch die eine oder andere von ihnen sich so wie die Silicon Valley Bank (svb) oder Credit Suisse verspekuliert, ist wahrscheinlich, sagt Thieme und beschreibt die Ursachen der svb-Pleite. Diese habe mit vorteilhaften Zinsangeboten um Kunden geworben; während der Zinssatz im negativen Bereich war, wurden positive Zinsen ausgelobt. Die svb habe die einlangenden Kundengelder in langfristige amerikanischen Staatsanleihen angelegt und angenommen, dass sie damit gesichert wären, hat sich aber verspekuliert. Thieme: „Wer sich im Bankgeschäft auskennt, muss wissen, dass diese Strategie bei steigenden Zinsen schieflaufen muss. Bei einer sehr hohen Inflationsrate wie letztes Jahr musste man mit steigenden Zinsen von Seiten der Notenbanken her rechnen. Dann werden wohl bald auch die langfristigen Zinsen steigen; von vorher 1 bis 1,25 Prozent werden sie sich verdoppeln oder verdreifachen. Dann werden die existierenden langfristigen Staatsanleihen in ihrem Wert stark fallen, so dass ein Ungleichgewicht zwischen dem, was man den neuen Bankkunden an höheren Zinsen auszahlen muss, und dem, was sie als Gegenwert bzw. als Absicherung ihres Geschäftes besitzen. Das war eine echte Spekulation, um Neukunden zu kaufen, und sie ist fehlgelaufen. Ich glaube aber nicht, dass das gesamte Bankensystem in Europa oder in den USA gefährdet ist.“ Auch in Deutschland oder in der Schweiz sieht Thieme keine drohenden Probleme auf die Bankwelt zukommen.

KI -- Megaproblem oder Megalösung?

Die Lage auf den Arbeitsmärkten in den westlichen Industrieländern ist verwirrend. Einerseits suchen Arbeitgeber mit aufwendigen Kampagnen rare Fachkräfte sogar auf fremden Kontinenten, um ihre gute Auftragslage in tolerabler Frist abarbeiten zu können. Andererseits propagieren Arbeitnehmer-Interessenvertretungen kürzere Wochenarbeitszeiten bzw. die Einführung einer Viertagewoche. Der „golden handshake“, um teure Mitarbeiter loszuwerden, ist noch nicht aus der Mode gekommen. Im Gegenteil. Während sich viele Unternehmer ihre professionellen Mitarbeiter aus immer weiter entfernten Destinationen herholen, preist die Wissenschaft den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) als probate Problemlösung an. Was hält Berufsoptimist Heiko Thieme davon? „Eine Megaarbeitslosigkeit durch KI sehe ich nicht. KI ist das große neue Thema für die kommenden zehn oder zwanzig Jahre. Viele Menschen fürchten, dass plötzlich ein computergetriebenes Uhrwerk das Gehirn ausschalten wird; das wird so nicht sein! Dass Computer Dinge erledigen werden, die wir nur mit Schwierigkeiten bewältigen, wird uns das Leben erleichtern. Zum Beispiel denke ich an komplizierte Verträge, die immer nach demselben Vorbild ausformuliert werden sollen. Das kann man durch einen Computer formulieren lassen und ihre endgültige Ausfertigung beim Überlesen korrigieren, sagt Thieme.

Generell könne der Computer viele Tätigkeiten, die, wie man bisher glaubte, nur der Mensch erledigen kann, schneller, konsequenter und perfekter ausführen. „Ein weiteres Feld für KI ist die Medizin. Hier nimmt Thieme die Pathologie als Beispiel: Während ein Pathologe innerhalb eines Arbeitstages nur eine beschränkte Zahl pathologischer Bilder lesen und verarbeiten kann, ist der Computer volle 24 Stunden am Tag einsatzfähig ohne Überstunden und Urlaubstage in Anspruch zu nehmen. Die Kontrollfunktion des Pathologen über den Computer bei kritischen Fällen bleibt erhalten. Thiemes Prognose lautet: „Die Welt wird in den nächsten 50 Jahren komplett anders in ihren Strukturen, Arbeitsbedingungen, Einschätzungen und Rhythmen funktionieren als bisher. Von Arbeitslosigkeit durch KI sehe ich keine Spur. Wir haben schon jetzt viel zu wenig Arbeitskräfte dort, wo wir sie derzeit aufgrund der aktuellen Erfordernisse und des Rückganges der Geburtenzahlen sowie der steigenden Zahlen von Pensionisten dringend benötigen. Dieses Problem wird zu- und nicht abnehmen. Wir kommen nicht in eine Zeit, wo es für die Menschen keine Arbeit mehr geben wird. Ganz im Gegenteil!“

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