Die EU-Spitzen ringen in Brüssel um das schärfste Klimaziel ihrer Geschichte. Die Kommission fordert 90 Prozent weniger Treibhausgase bis 2040 – doch die Widerstände wachsen.

Der Zeitdruck ist enorm: Bereits verpasst die Union die UN-Frist für ihre Klimapläne. Jetzt soll der Gipfel die Richtung vorgeben, bevor die Umweltminister am 4. November entscheiden – kurz vor der Weltklimakonferenz COP30 in Brasilien.

Wissenschaftler schlagen Alarm

Über 2.000 europäische Forscher erhöhen den Druck auf die Politik. In einem offenen Brief bezeichnen sie das 90-Prozent-Ziel als "existenzielle Notwendigkeit". Ihre Warnung: Ohne ambitionierte Ziele drohen kritische Klimakipppunkte.

"Die politische Diskussion bewegt sich von den wissenschaftlichen Erkenntnissen weg", mahnen die Experten. Sie versprechen auch wirtschaftliche Vorteile: günstigere Stromrechnungen, neue Jobs und Milliarden-Einsparungen bei Energie-Importen.

Industrie warnt vor Kahlschlag

Die deutsche Wirtschaft sieht das völlig anders. "Nicht realistisch" – so bewertet DIHK-Vize Achim Dercks das Kommissionsziel. Eine gemeinsame Studie von DIHK und kommunalen Unternehmen kommt zu einem vernichtenden Urteil: Die EU-Pläne basieren auf zu optimistischen Annahmen.

Was fehlt? Verfügbare Technologien, Fachkräfte und Rohstoffe. Die Industrievertreter fürchten Produktionsverlagerungen ins Ausland und den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit.

Streit um die Hintertür

Ein besonders heißes Eisen: die geforderte "Revisionsklausel". Polen und andere Mitgliedstaaten wollen sich eine Hintertür offen halten, um das Ziel später wieder abzuschwächen. Falls Technologien wie CO₂-Speicherung nicht wie erhofft funktionieren oder die Wirtschaft leidet.

Auch die geplante Flexibilität sorgt für Ärger. Bis zu drei Prozent der Emissionsreduktion sollen durch internationale Klimazertifikate ersetzt werden können. Umweltorganisationen wittern eine Mogelpackung.

Deutschland zwischen den Fronten

Die 27 Mitgliedstaaten sind tief gespalten. Deutschland und Frankreich unterstützen grundsätzlich das 90-Prozent-Ziel, haben die Entscheidung aber an die Regierungschefs weitergereicht. Umweltminister Carsten Schneider (SPD) bekräftigt die deutsche Unterstützung.

Ganz anders die Osteuropäer: Polen, Ungarn und Tschechien halten die Pläne für viel zu ehrgeizig. Sie fordern mehr Rücksicht auf ihre wirtschaftliche Lage.

Scheideweg für den Green Deal

Die kommenden Wochen entscheiden über die Zukunft der europäischen Klimapolitik. Kann die EU ihre Vorreiterrolle behaupten oder bremsen wirtschaftliche Sorgen die Ambitionen aus?

Klimaforscher Joseph Dellatte vom Institut Montaigne bringt es auf den Punkt: "Das 90-Prozent-Emissionsziel ist keine Umweltpolitik mehr, es ist Wirtschaftspolitik."

Die endgültige Ausgestaltung wird alle Sektoren treffen – von der Energieerzeugung über die Industrie bis zum Verkehr. Ein Kompromiss muss her, doch der Spielraum wird immer enger.