Elisabeth Stadler (CEOin Vienna Insurance Group): Wir sehen in der CEE-Region genug Potenzial für die nächsten 30 Jahre
Elisabeth Stadler, Vorstandsvorsitzende der Vienna Insurance Group, im Interview über Wachstum, Nachhaltigkeit und den Einfluss von Inflation.
BÖRSE EXPRESS: Mit der Übernahme des Aegon-Geschäfts steigt die Vienna Insurance Group (VIG) in Ungarn beim Marktanteil von knapp 9 auf 19 Prozent. Wie wichtig ist in Zeiten eines, wie es heißt, disruptiven Marktes – in Zeiten diverser Fintechs – Größe?
ELISABETH STADLER: Marktgröße ist deshalb so entscheidend, weil sie ein wichtiger Indikator für die Wirtschaftlichkeit ist. Viele haben Märkte in der Finanzkrise verlassen, weil sie zu klein waren, um langfristig profitabel zu sein. Größe ermöglicht mehr Chancen und vor allem auch mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten in einem Markt – wie sie die VIG nun in Ungarn als Marktführerin hat. Eine Marktführerschaft stärkt auch das Vertrauen der Stakeholder – von den Investoren bis zum Mitarbeitenden – und sie gibt mehr Spielraum und Stabilität in herausfordernden Phasen. Außerdem bieten sich mehr Möglichkeiten, mit innovativen jungen Playern wie Fintechs zu kooperieren.
Ganz grundsätzlich sind die Vorteile, die man als Marktführer hat, nicht davon abhängig, ob der Markt disruptiv ist oder nicht. Die Kundenbedürfnisse ändern sich und wir setzen bereits stark auf Innovationen und digitale Kundenservicierung – auch in Ungarn. Die neu übernommene ungarische Aegon-Gesellschaft ist neben profitabel auch äußerst innovativ – für uns ist die Expertise der neuen Kolleginnen und Kollegen in Ungarn das größte Asset hinsichtlich unserer Zukunftsfähigkeit!
Zumeist werden übernommene Unternehmen komplett auf die Mutter verschmolzen, auch die Marke, um bestmögliche Synergien zu nutzen, wie es heißt. Bei der Vienna Insurance Group werden die Marken in der Regel weitergeführt. Bleibt dieser Weg? Und wenn ja, worin sehen Sie die Vorteile?
Wir bleiben unserer Mehrmarkenstrategie und dem Fokus auf lokales Unternehmertum treu. Diese beiden Prinzipien sind die beiden wesentlichen Unterscheidungsmerkmale der VIG-Gruppe im internationalen Vergleich und damit sind wir erfolgreich. Wir bleiben dabei, denn unsere Vielfalt im Markt ermöglicht uns, unterschiedliche Kundengruppen bestmöglich anzusprechen. Schließlich vertrauen Kunden Marken, die sie kennen, und die historisch gewachsen sind und auch die Loyalität unserer lokalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist höher. Synergien nutzen wir in den Ländern natürlich auch mit unserer Mehrmarkenstrategie, etwa durch gemeinsame Back Offices und Know-how-Transfer innerhalb der Gruppe.
Um den Aegon-Deal durchzubringen, mussten Sie in Ungarn Zugeständnisse machen – etwa 45 Prozent des Ungarn-Geschäfts an den Staat verkaufen. Hat Ungarn mit seiner 45% Kapitalbeteiligung auch die ‚normalen‘ Gesellschafterrechte eines 45%-Anteilseigners oder ist da anderes vereinbart?
Durch die Kooperationsvereinbarung mit Ungarn ist eine zukunftsorientierte Lösung gelungen, da der Staat dem Vorsorge- und Absicherungsgedanken entsprechend hohen Stellenwert einräumt und die VIG-Gruppe dafür als kompetente und nachhaltig orientierte Expertin fungieren kann.
Es handelt sich dabei um eine Kooperation mit allen Rechten und Pflichten, sprich Ungarn wird am Gewinn zu 45% beteiligt aber auch an den Kosten. Die VIG behält die kontrollierende Mehrheit und operative Führung der ungarischen Gesellschaften.
Die ungarische Aegon-Einheit war beim für Sie wichtigen Gewinn vor Steuern deutlich profitabler als die bisherige VIG-Gesellschaft. Woran liegt das?
Die UNION war und ist sehr profitabel, wir haben hier die Fusionierung von zwei Lebensversicherungsgesellschaften mit der UNION zu berücksichtigen, also ein ganz anderes Portfolio mit sehr hohem Lebensversicherungsanteil im Vergleich zur Aegon mit starkem Sachversicherungsanteil. Deshalb ergänzen sich die beiden Gesellschaften auch gut für uns. Die UNION ist die Nummer 6 am Markt gewesen und wesentlich kleiner, die Aegon ist die Nummer 3 am Markt und beinhaltet auch Asset Management und Pensionskassengeschäft, ist also viel breiter aufgestellt.
Jetzt stellen 600 Millionen Euro zusätzliche Prämienvolumen für einen 11 Milliarden-Euro-Konzern keine Großübernahme dar, die diesen für Jahre in Anspruch nimmt. Ich nehme daher an, Sie schließen weitere Zukäufe nicht aus …? Was wäre eine Größe, vor der Sie wahrscheinlich eher Abstand nehmen würden?
Der Erwerb der Aegon-Gesellschaften in vier Länder mit rund 15 Gesellschaften stellt den zweitgrößten Erwerb in der Expansionsgeschichte der VIG-Gruppe dar, er ist auch insgesamt im Jahr 2020 als wir den Kaufvertrag abgeschlossen haben der zweitgrößte Kauf einer Versicherung in Österreich gewesen. Ich würde diesen Umfang daher jetzt nicht kleinreden wollen. Die 11 Milliarden an Prämienvolumen, die wir heute haben, sind auch im Laufe von mehr als 30 Jahren entstanden und nicht über Nacht.
Wir haben für uns als Gruppenziel den Ausbau unserer Marktführerschaft in der CEE-Region definiert und bis Ende 2025 wollen wir in allen Märkten in CEE mit Ausnahme von Slowenien unter den Top 3 sein. Das haben wir noch nicht überall erreicht, daher sind Zukäufe möglich – aber immer unter Prämisse, dass diese in unser Portfolio passen und sich rechnen müssen, also profitabel sind. Es kommt hier also sehr auf den Einzelfall an.
Wie sehr beeinflusst der Russland/Ukraine-Konflikt Ihre strategischen Zukunftspläne? Wenn ich mir die VIG-Landkarte ansehe, gibt es außer im ehemaligen Jugoslawien und Polen vor allem noch Wachstumspotenzial in Staaten wie Weißrussland und der Ukraine – sonst müssten Sie die Türkei deutlich ausbauen. Wo sehen Sie langfristig Ihr größtes Wachstumspotenzial und gibt es ein Verhältnis aus West- zu osteuropäischen Assets, das Sie nicht unterschreiten möchten, oder spielen solche Überlegungen keine Rolle?
Dieser schreckliche Krieg entsetzt uns sehr und wir tun alles, was wir können, um unseren rund 1400 ukrainischen Kolleginnen und Kollegen und ihren Familien in dieser dunklen Zeit beizustehen. Nicht zuletzt über unseren eigens eingerichteten VIG Family Fund. Die Unterstützung innerhalb unserer Gruppe ist riesig und zeigt unsere großartige Verbundenheit.
Neben der menschlichen Komponente, die für uns oberste Priorität hat, beobachten wir die wirtschaftlichen und strategischen Auswirkungen natürlich ganz genau. Die Ukraine hatten wir als Wachstumsmarkt definiert und dort schöne Zuwächse erzielt. Am Gesamtprämienvolumen gemessen hat die Ukraine mit etwas über 100 Mio. Euro Prämienvolumen nur einen geringen Anteil.
Insgesamt sehen wir vor allem noch enormes Wachstumspotenzial in unserer Kernregion CEE, darauf liegt auch weiter unser Fokus. Bis 2025 haben wir uns, wie erwähnt zum Ziel gesetzt, hier überall unter den Top 3 zu sein. Weißrussland und die Türkei zählen zu den Spezialmärkten, hier verfolgen wir jeweils spezifische Zielsetzungen. Wir sehen langfristig auch weiter unser größtes Potenzial in CEE, da hier die Versicherungsdurchdringung nur rund ein Zehntel von jener in Österreich ausmacht. Ich bin überzeugt, mit zunehmendem Wohlstand in der Region wird auch der Bedarf wachsen, diesen abzusichern. Wir sehen daher genug Potenzial für die nächsten 30 Jahre.
Die VIG hat erfolgreich als erste europäische Versicherung eine Benchmark-Nachhaltigkeitsanleihe platziert. Sie haben betont, bewusst sowohl in grüne als auch soziale Projekte zu investieren? Welchen Stellenwert hat das soziale Engagement für die VIG?
Unsere Nachhaltigkeitsanleihe über eine halbe Milliarde Euro haben wir im März 2021 begeben und bereits innerhalb eines Jahres in entsprechende Projekte allokiert. Diese wurde in Aktivitäten in den Bereichen Grüne Gebäude, erneuerbare Energien, leistbares Wohnen, Clean Transportation sowie in den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit investiert. Darunter sind Projekte wie Wohngebäude, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs bis hin zu Windparks und Solaranlagen. Mit unseren Investments wollen wir als VIG-Gruppe eine nachhaltig positive ökologische und soziale Wirkung erzielen.
Soziales Engagement ist auch darüber hinaus seit langem in unserer Gruppe verankert. Seit über 10 Jahren gibt es zum Beispiel den Social Active Day, eine Initiative unseres Hauptaktionärs. Damit ermöglichen wir es unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, einen Arbeitstag pro Jahr für einen guten Zweck einzusetzen.
Wie stark beeinflusst Nachhaltigkeit die Strategie der VIG und wo setzten sie hier ihre Schwerpunkte?
Die im Rahmen unseres aktuellen Strategieprogramms „VIG 25“ festgelegten Gruppenziele beinhalten erstmals auch ESG-bezogene Vorhaben für Gesellschaft, Kunden und Mitarbeiter. Damit führen wir konsequent unseren bereits bisher eingeschlagenen Weg weiter. Unsere Unternehmensgruppe verfolgt seit ihren Ursprüngen im 19. Jahrhundert soziale Anliegen und nachhaltiges Wirtschaften ebenso wie profitables Wachstum. So sind die Forcierung von Investitionen in erneuerbare Energien und Green Bonds sowie der Ausstieg aus dem Engagement im Kohlesektor wesentliche Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie der VIG-Gruppe.
Einen besonderen Schwerpunkt setzen wir auf soziale Nachhaltigkeit und somit auch auf das Thema Wohnen. Neben den oben genannten Investments sind wir kürzlich eine Kooperation mit dem Immobilien-Start-up Gropyus eingegangen, um unser Engagement für bezahlbares Wohnen für breite Bevölkerungsschichten weiter auszubauen. Gropyus sieht Immobilienentwicklung als ganzheitliches Produkt und setzt auf industrielle Produktionstechnik und hohe Digitalisierung, um die Kosten für den Wohnbau stark zu senken und Bauprojekte rascher zu realisieren.
Allgemein großes Thema ist derzeit die extrem hohe Inflation. Wie sehen Sie den Einfluss auf die Branche im Allgemeinen? Galoppieren im Sachbereich die Schadenskosten den Prämieneinnahmen einfach davon, oder ist das eher mit Mietverträgen und deren automatischen Indexanpassungen vergleichbar?
Es spielen hier einige Faktoren mit, die sich indirekt und direkt auf die Branche auswirken. Wir haben Engpässe bei den Lieferketten, Ressourcenknappheit, hohe Energiepreise und das alles wirkt sich auf die steigende Inflation aus.
Aus den Prämieneinnahmen müssen Versicherungen die Schadenkosten decken. Und wenn sich beispielsweise der Stundensatz von Mechanikern erhöht oder die für Reparaturen nötige Materialien knapp und damit teurer werden, steigen für die Branche somit die Schadenskosten, daher können Prämienanpassungen notwendig werden.
Zu Beginn hatten wir das Stichwort Fintech. Im Bankenbereich ist es mittlerweile so, dass Fintechs bei der Börsenbewertung an klassischen Banken teils deutlich vorbeigezogen sind – Adyen etwa ist mehr als doppelt so viel wert wie die Deutsche Bank. Im Versicherungsbereich ist das noch nicht so. Weil die Aufsichtsbehörden auf ‚Ihrer‘ Seite sind? Das Geschäft an sich unattraktiv ist? Bankenprodukte leichter vergleichbar sind, als Versicherungsleistungen? Wie und wo sehen Sie die Zukunft von Fintechs in der Versicherungsbranche?
Versicherungen unterliegen sehr strengen regulatorischen Vorschriften und gesetzlichen Vorgaben, das ist auch für Fintechs kompliziert, daher wollen die tendenziell lieber die Versicherungen als Partner, nicht als Konkurrenten.
Entsprechend kooperieren wir bereits eng mit Fintechs im Versicherungssektor. Und, wenn Sie so wollen, schaffen wir mit unseren Start-ups wie viesure - in Österreich - und beesafe - in Polen - unsere eigenen Fintechs in der Gruppe. Wir setzen auch hier auf eine Vielfalt der Kanäle und Angebote. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass wir uns hier in den kommenden Jahren auf spannende Innovationen in unserer Branche einstellen können.
Versicherung ist ein sehr komplexes Geschäftsmodell und umfasst auch komplexe und maßgeschneiderte Produkte. Das macht einen Vergleich schwierig. Und es gibt es einen größeren Beratungsbedarf, dem entsprechend Rechnung getragen werden muss. Auch Vertrauen spielt hier eine wichtige Rolle, daher glauben wir, dass ein hybrider Vertrieb die Zukunft ist.
Vom Fintech ist es nicht weit in die Krypto-Welt. Basteln Sie bereits am Versicherungsdokument in der Blockchain und wo sehen Sie Einsatzmöglichkeiten?
Wir setzen Blockchain in unserer Gruppe seit Ende 2020 schon in unserem Firmenkundengeschäft ein. Die Donau Versicherung verwendet diese Technologie in der Maschinen- und Kasko-Versicherung, die Wiener Städtische Versicherung nutzt sie etwa im Rahmen der Transportversicherung. Durch den Einsatz der Blockchain-Technologie können Kunden die benötigten Versicherungszertifikate für bevorstehende Transporte über eine eigene Plattform erstellen – selbstständig und rund um die Uhr. Dadurch sparen sie wertvolle Zeit, denn die Versicherungszertifikate können unmittelbar vor ihrem Einsatz erstellt werden. Für jeden Kunden gibt es dabei ein Nutzerprofil, das – je nach bestehendem Vertrag – gewissen Parametern unterliegt. Diese Parameter entscheiden darüber, für welche Transporte Zertifikate vom Versicherungsnehmer eigenständig erstellt werden können. Um ein Zertifikat zu erhalten, gibt der Kunde die Eckdaten des Transportes, wie die Route, das Transportmittel oder den Warenwert, auf der Plattform ein. Beide Gruppengesellschaften setzen dazu auf eine Kooperation mit dem Schweizer Start-up Versicherix.
Das ist aber natürlich erst der Anfang und weitere Sparten werden folgen. Wir haben die Blockchain und andere Technologien im Auge und prüfen weitere Einsatzmöglichkeiten.
Unter den letzten auf Ihrer Webseite veröffentlichten Directors‘ Dealings findet sich der Kauf von 1480 Aktien von Ihnen. Warum sind Sie VIG-Aktionärin?
Die VIG-Gruppe hat in den letzten Jahren permanent ihre Kennzahlen verbessert, meist die Prognose weit übertroffen, zeigt enormes Wachstumspotenzial, sehr starke und stabile Kapitalstärke, hat eine sehr breite Diversifizierung und zeigt auch in Krisenzeiten starke Resilienz. Also für mich sind das mehr als genug Gründe, in die VIG zu investieren. Und wer, wenn nicht ich als CEO, sollte nicht an den Erfolg des Unternehmens glauben, das er steuert.
Aus dem Börse Express PDF von 12. April hier zum Download