Der Preis der falschen Prioritäten

Der Preis der falschen Prioritäten
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
während Europa seine digitale Souveränität auf dem Altar der Bürokratie opfert, spielen amerikanische Tech-Giganten Monopoly mit der Zukunft. Die EU-Kommission feiert sich für Datenschutzverordnungen und Wettbewerbsauflagen – doch was nützt die schärfste Regulierung, wenn niemand mehr da ist, den man regulieren kann? Heute schauen wir auf eine Woche, die schmerzhaft deutlich macht: Die Kluft zwischen Silicon Valley und dem alten Kontinent wird nicht kleiner, sie wird zum Abgrund.
Europas digitaler Offenbarungseid
Die "Geographical Pricing"-Initiative von Elsevier mag gut gemeint sein, zeigt aber das Grundproblem: Während US-Konzerne mit KI-gestützten Forschungsplattformen die Wissenschaftswelt revolutionieren, diskutiert Europa über Preismodelle für Open-Access-Publikationen. 300 Journals mit angepassten Gebühren – das ist die große Innovation?
In der gleichen Woche präsentiert ein kanadisches Bergbauunternehmen stolz Batterietests mit "nahezu theoretischer elektrochemischer Kapazität". Die Tests liefen übrigens in amerikanischen Laboren, mit amerikanischen Partnern. Europa? Fehlanzeige. Dabei war Batterietechnologie einmal unsere Domäne.
Die Ironie ist kaum zu übertreffen: Bundeskanzler Merz möchte mit 19 EU-Kollegen das europäische Regelwerk "gründlich überprüfen" und überholte Vorschriften streichen. Gleichzeitig sollen aber neue Initiativen zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren her. Man fragt sich unwillkürlich: Wer genehmigt eigentlich die Genehmigung zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren?
Das Stadtbild-Dilemma: Wenn Politik zur Projektion wird
Die Debatte um Merz' "Stadtbild"-Äußerung offenbart mehr als nur sprachliche Unschärfe. Sie zeigt, wie sehr die deutsche Politik in Symboldebatten gefangen ist, während handfeste Probleme ungelöst bleiben. 2.000 bis 7.500 Demonstranten (je nachdem, wen man fragt) vor der CDU-Zentrale – aber keine einzige konkrete Idee, wie man die Sicherheit in Städten tatsächlich verbessert.
SPD-Mann Stegner trifft den Nagel auf den Kopf, verpasst aber die Pointe: "Niemand bestreitet, dass es in Städten Probleme gibt." Genau. Aber statt diese anzugehen, verlieren wir uns in semantischen Grabenkämpfen. Währenddessen? Bauen chinesische Firmen die Infrastruktur in Afrika auf, während wir darüber streiten, ob das Wort "Stadtbild" problematisch ist.
Deutsche Bahn: Die Entgleisung als System
Sigrid Nikutta muss gehen. 3,1 Milliarden Euro Verlust in sechs Jahren bei DB Cargo – das ist keine Bilanz, das ist eine Kapitulation. Die Lösung? Personalabbau, Werkstätten schließen, Loks mieten statt kaufen. Man stelle sich vor, Amazon würde seine Lieferwagen verkaufen und dann anmieten. Jeff Bezos würde vermutlich vor Lachen vom Stuhl fallen.
Die neue Bahnchefin Evelyn Palla will "stärker durchgreifen". Nach jahrelangem Zusehen ist das wie der Kapitän der Titanic, der nach der Kollision energisch zum Schrubben der Decks aufruft. Der Einzelwagenverkehr, eigentlich Rückgrat des Schienengüterverkehrs, ist trotz Förderung unrentabel. DB Cargo hat einen Marktanteil von noch 44 Prozent – Tendenz fallend.
Besonders bitter: Team Verksted in Norwegen, gerade von einem schwedischen Unternehmen übernommen, verzeichnet "truly flying start". In Deutschland? Diskutieren wir über rote Hosenanzüge.
Die Gender-Perception-Gap: Wenn Realität auf Statistik trifft
Acronis präsentiert stolz seinen "Women in Tech Report". 82% der befragten Frauen glauben, mehr weibliche Führungskräfte würden die Arbeitsplatzkultur verbessern. Die Männer? Sehen das anders. Der Report nennt es "Perception Gap" – man könnte es auch kognitiven Konflikt nennen.
Das wahre Problem liegt tiefer: Während wir über Quoten und Leadership-Programme diskutieren, bildet Indien jährlich mehr Ingenieurinnen aus als Deutschland insgesamt Ingenieure. Die "FOMO at Work" ist real – aber sie betrifft nicht nur Frauen in der Tech-Branche, sondern Europa als Ganzen.
Der amerikanische Masterplan
Die US-Unternehmen spielen derweil in einer anderen Liga. Cambrex investiert 120 Millionen Dollar in Iowa – für eine einzige Produktionsstätte. Metro Supply Chain strukturiert seine Führung um, Dan Peacock kommt von DHL UK und soll das Geschäft "propel forward".
Besonders aufschlussreich: Chelsea Football Club macht FPT aus Vietnam zum "Principal Partner". Ein Fußballverein und ein vietnamesisches Tech-Unternehmen – beide denken globaler als die meisten deutschen DAX-Konzerne. FPT spricht von "AI-first transformation" und "next-level innovation". Bei uns? Diskutiert man über GDPR-konforme Cookie-Banner.
Anzeige: Apropos technologische Vorherrschaft – während Europa über Regularien streitet, investieren die USA und Asien bereits massiv in die nächste Chip-Generation. Wer verstehen möchte, welche europäischen Tech-Unternehmen davon profitieren könnten, findet eine fundierte Analyse im aktuellen Report zur „neuen Nvidia“-Aktie. Eine gute Gelegenheit, um zu sehen, wo Innovation tatsächlich entsteht – und wie Anleger an dieser Entwicklung teilhaben können.
Innovation trotz, nicht wegen Europa
Es gibt sie noch, die Lichtblicke. smartbax sichert sich 4,7 Millionen Euro für die Entwicklung neuer Antibiotika. Die Besonderheit? Das Unternehmen aktiviert bakterielle Hydrolasen – die Bakterien verdauen sich quasi selbst. Das ist echte Innovation, geboren aus deutscher Forschung.
Aber auch hier die typische Geschichte: Finanziert von Bayern Kapital und diversen Fonds, nicht von der vielgepriesenen europäischen Innovationsförderung. Und die Tests? Laufen in amerikanischen Laboren.
Geotab zeigt mit seiner Umfrage unter 3.500 Berufskraftfahrern, wie es gehen könnte: 87% wären bereit für KI-Coaching. Die Technologie ist da, die Akzeptanz auch. Was fehlt? Der regulatorische Rahmen, der Innovation ermöglicht statt verhindert.
Der Preis des Zögerns
Trump mag mit seinem Stop-and-Go bei Putin für Verwirrung sorgen, aber seine Botschaft ist klar: "Ich möchte kein vergeudetes Treffen." Diese Effizienzorientierung fehlt Europa völlig. Wir treffen uns zu Gipfeln über Gipfel, produzieren Papiere über Papiere – und die Welt zieht an uns vorbei.
Die Indonesian Central Bank hält überraschend die Zinsen – nicht aus Überzeugung, sondern weil die Banken die Zinssenkungen nicht weitergeben. Ein bekanntes Problem. Die Lösung? Mehr "liquidity incentives". Bei uns würde man erst mal eine Expertenkommission einsetzen.
Das britische Pfund fällt, weil die Inflation bei 3,8% verharrt statt zu steigen. Die Bank of England ist überrascht. Warum? Weil ihre Modelle die Realität nicht mehr abbilden. Klingt vertraut.
Was bleibt
Diese Woche zeigt brutal ehrlich: Während Europa über Regulierung und politische Symbolik streitet, definieren andere die Spielregeln der Zukunft. Die "Silver Economy", die Swiss Re in ihrem Sigma-Report analysiert, wird kommen – mit oder ohne europäische Beteiligung. Bis 2050 sind 27% der Bevölkerung in Industrieländern über 65. Ein gigantischer Markt. Wer bedient ihn? Amerikanische Insurtech-Startups und asiatische Technologiekonzerne, während wir über die Vereinbarkeit von GDPR und Telemedizin diskutieren.
Die bittere Wahrheit: Europa hat sich so sehr in seinen eigenen Regeln verfangen, dass es vergessen hat, wofür Regeln eigentlich da sind – um Innovation zu ermöglichen, nicht zu verhindern. Wir sind zum Weltmeister im Regulieren geworden, während andere Weltmeister im Erschaffen sind.
Die kommende Woche bringt neue Quartalszahlen, weitere EZB-Signale und vermutlich die nächste Debatte über irgendeinen Nebenschauplatz. Vielleicht sollten wir stattdessen mal fragen: Was würde passieren, wenn wir nur ein Jahr lang so viel Energie in Innovation stecken würden wie in Regulation?
Aber das wäre vermutlich zu einfach. Und Einfachheit – das ist so ungefähr das Letzte, was man Europa vorwerfen kann.
Bleiben Sie kritisch, bleiben Sie wachsam – und vor allem: Bleiben Sie innovativ. Irgendjemand muss es ja tun.
Ihr Eduard Altmann
PS: Während ich diese Zeilen schreibe, verkündet ein amerikanisches Startup die nächste KI-Revolution. Es hat drei Mitarbeiter und eine Bewertung von 500 Millionen Dollar. In Berlin diskutiert man derweil, ob Startups einen Betriebsrat brauchen. Sie merken schon – manche Probleme lösen sich von selbst. Durch Irrelevanz.