Bärenmarktrally vs. Hausse (Norbert Wolk)
Von einem Bärenmarkt spricht man, wenn ein Index um mindestens 20 Prozent von seinem letzten Höchststand gefallen ist; und das in einem Zeitraum von mindestens zwei Monaten. Dass wir uns im DAX in einem Bärenmarkt befunden haben steht außer Zweifel. Vom Hoch bei ca. 16.200 Punkten im Januar 2022 sind wir bis zu seinem Tief bei ca. 11.900 Punkten im September 2022 um 26 Prozent gefallen. Aktuell steht der DAX bei ca. 15.400 Punkten. Diese Erholung beläuft sich auf unglaubliche 30 Prozent, und das in einem Zeitraum von nicht einmal mehr als fünf Monaten.
Wann spricht man von einer Bärenmarktrallye?
Bei einer Bärenmarktrally erholt sich der Aktienmarkt von der negativen Entwicklung, die Kurse steigen wieder und der Markt normalisiert sich. Vor allem die Kraft einer solchen Erholung darf nicht unterschätzt werden. So zum Beispiel sind beim DAX die beiden am Kursplus gemessen stärksten Tage in einem Bärenmarkt aufgetreten. Vor allem ist auch wichtig zu erwähnen, dass Bärenmarktrallys ein wichtiger Bestandteil eines Bärenmarktes sind und dazugehören, wie bei einer Scheibe Brot die Butter. Die Frage aller Fragen lautet nun, ob wir uns jetzt wieder auf fallende Notierungen einstellen müssen oder war‘s das jetzt nach unten? Sprich, stehen wir vor einer neuen Haussebewegung?
Da ich jeden Tag „im Markt“ war und immer noch bin, früher schon als aktiver Börsenhändler und jetzt auch in meiner Rolle als Portfoliomanager, stoßen für mich zwei Welten aufeinander. Zum einen sehe ich, wie der Markt täglich handelt. Und das ist wirklich extrem bullisch. Selbst jetzt bei 15.400 Punkten ist der Markt sehr robust. Das erkenne ich daran, weil oft, wirklich sehr oft, der Handelstag unten links im Chart beginnt und oben rechts endet. Und das mit einer sehr geringen Volatilität intraday. Und wenn Wirtschaftszahlen herauskommen, auch wenn sie enttäuschend sind, geht es nach oben. Und wenn die Zahlen einigermaßen in line sind, geht es erst recht noch steiler nach oben. Vor allem ist die Outperformance des DAX gegenüber dem MSCI World absolut erstaunlich.
Also was soll den Markt nach unten bringen? Alles Schlechte ist doch bekannt und in den Preisen enthalten. Und: man sagt doch immer „der Markt hat immer Recht!“ Auf der anderen Seite sehe und lese ich natürlich auch über die Probleme, die wir im Mikrobereich auf der Unternehmensseite und im Makrobereich, also gesamtwirtschaftlich, haben. Und ehrlich gesagt beruhigt mich das nicht. Bestes Beispiel dafür ist der Zinsunterschied zwischen den kurzen und den langlaufenden US-Staatsanleihen. Aktuell werfen zweijährige US-Staatsanleihen 0,81 Prozent mehr ab als 10-jährige. Dies nennt man eine inverse Zinsstrukturkurve und ist oftmals Vorbote einer Rezession mit entsprechenden Auswirkungen auf den Aktienmarkt.
Auch der US-Leading Economic Indicators Index, also die Wirtschaftsindikatoren in den USA, sehen nicht unbedingt vertrauenswürdig aus:
Erstaunlich ist die Stimmung in Deutschland, was die zukünftige Entwicklung des Aktienmarktes anbelangt. Sie ist eher pessimistisch, neutral bis vorsichtig, wie eine jüngste Untersuchung im Handelsblatt gezeigt hat. In den USA dagegen sieht es anders aus. Bestes Beispiel dafür ist das PUT / Call-Verhältnis, das auf den tiefsten Stand seit einem Jahr gefallen ist. US-Anleger sind demnach bullisch und kaufen Call-Optionen, um nach oben mit dabei zu sein. Auch sind die US-Fondsmanager mit einer Investitionsquote von 85 Prozent schon deutlich investiert. Das Flossbach von Storch Research Institute hatte in einem sehr interessanten Aufsatz über die „known Unknowns“ der Finanzrisiken, also die (eigentlich) bekannten unbekannten Risiken aufgeklärt. Das Fazit einer über 30-seitigen Abhandlung: „Insgesamt ergibt sich ein Bild, das alle Akteure nachdenklich stimmen sollte. Die sprichwörtliche „Zeitenwende“ auch beim Zins dürfte viele Schwachstellen im Finanzsektor mit mehr oder weniger großen Konsequenzen aufdecken. Der Investor sollte daher für unvorhergesehene Einschläge Finanzpuffer vorhalten“.
Der Spruch „der Markt hat immer Recht“ kann sich dieses mal auch als Trugschluss erweisen. Die positive Entwicklung an der Börse ist für mich immer noch eine Bärenmarktrallye, weil zu viele Risiken im Markt vorhanden sind. Wer investieren will, sollte dem Risikomanagement, gerade auf diesem Niveau, eine besondere Bedeutung geben. Denn wenn es dann fällt, kommt es meist über Nacht aus einer Ecke, die man vorher so nicht auf der Uhr hatte.
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Aus dem Börse Express PDF vom 02.03.2023