Anfang des Jahres waren viele Anleger davon überzeugt, dass die US-Notenbank Fed, die Zinsen bis Ende 2024 viermal senken wird. Heute, angesichts der unerwartet hohen Inflation, erscheint dies jedoch unwahrscheinlich. Gut möglich, dass es in diesem Jahr überhaupt keine Zinssenkungen geben wird – und dass die Märkte damit gut zurechtkommen. Aus meiner Sicht sprechen drei gute Gründe dafür, den US-Leitzins für den Rest des Jahres auf dem jetzigen Niveau zu belassen.

Grund Nr. 1: Die US-Wirtschaft kann es verkraften.

Die US-Wirtschaft wächst trotz der drastischen Anhebung des Leitzinses auf derzeit 5,25 bis 5,50 Prozent weiterhin in einem gesunden Tempo. Tatsächlich befindet sie sich auf einem 23-Jahres-Hoch. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet, dass die US-Wirtschaft in diesem Jahr mehr als doppelt so schnell wachsen wird wie andere große Industrieländer. Zuletzt habe der IWF seine Prognose für das US-Wirtschaftswachstum auf Jahresbasis auf 2,7 Prozent angehoben, verglichen mit 0,8 Prozent für Europa und 0,9 Prozent für Japan.

Die Widerstandsfähigkeit der US-Wirtschaft angesichts deutlich höherer Zinssätze war eine der größten Überraschungen der letzten zwei Jahre. Es ist noch nicht lange her, dass viele Anleger und Ökonomen glaubten, wir würden auf eine Rezession zusteuern. Und jetzt sieht es so aus, als könnte die US-Wirtschaft mit einer Rate wachsen, die über der IWF-Prognose liegt und möglicherweise 3,0 Prozent erreicht. Gründe dafür sind, dass die US-Verbraucher weiterhin Geld ausgeben, der Arbeitsmarkt angespannt bleibt und die Hersteller in der Zeit nach der Pandemie in neu diversifizierte Lieferketten investieren.

Solch solides Wachstum wird normalerweise nicht mit Zinssenkungen in Verbindung gebracht. Die US-Wirtschaft scheint sich recht gut an ein höheres Zinsumfeld angepasst zu haben. Ihre Widerstandsfähigkeit gibt Anlass zur Sorge, dass die US-Wirtschaft überhitzen könnte, wenn die Fed die Zinsen vorzeitig senkt, was den Inflationsdruck wieder anheizen könnte.

Grund Nr. 2: Fortschritte bei der Inflationsbekämpfung kommen ins Stocken.

Der Kampf der Fed gegen die Inflation ist gut verlaufen, keine Frage. Aber er ist noch nicht vorbei. Die Verbraucherpreise sind zwar seit ihren Höchstständen im Juni 2022 zurückgegangen, liegen aber immer noch deutlich über dem Zwei-Prozent-Ziel der Fed. Das letzte Stück des Weges – von 3,0 Prozent auf 2,0 Prozent – könnte die schwierigste Etappe sein.

Wenn die Fed in diesem Jahr keine Zinssenkung vornimmt, dann wahrscheinlich deshalb, weil die Inflation nicht so schnell sinkt, wie von den Zentralbankern erwartet. Ein Großteil des jüngsten Inflationsrückgangs ist auf den Konsumgütersektor zurückzuführen, wo die Preise so schnell wie seit fast 20 Jahren nicht mehr gesunken seien. Ich glaube nicht, dass dies von Dauer sein wird, zumal der US-Dollar nicht mehr so schnell an Wert gewinnt wie im vergangenen Jahr. Außerdem könnten sich die höheren Immobilienpreise angesichts der jüngsten Änderungen in der Datenerhebungsmethodik stärker als in der Vergangenheit auf die Mietinflation auswirken.

Im Dienstleistungssektor ist die Inflation in den letzten sechs Monaten mit einer Jahresrate von über 6,0 Prozent gestiegen. Dies ist weitgehend auf ein solides Lohnwachstum aufgrund eines starken Arbeitsmarktes zurückzuführen. Die Arbeitslosenquote in den USA ist zwar leicht auf 3,8 Prozent gestiegen, liegt aber immer noch nahe ihrem 50-Jahres-Tief.

Nun könnte man meinen, dass eine Inflation zwischen 2,5 und 3,0 Prozent nahe genug am Zwei-Prozent-Ziel ist. In der Zeit vor der Pandemie jedoch, als der disinflationäre Druck das Problem war, hielten die Fed-Beamten Inflationsraten von 1,5 oder 1,6 Prozent für zu niedrig. Deshalb sollten wir davon ausgehen, dass 40 oder 50 Basispunkte über dem Zielwert von zwei Prozent auch heute noch zu hoch sind.

Grund Nr. 3: Die Finanzmärkte sind mit dem Status quo zufrieden.

Den Aktienmärkten geht es insgesamt gut. Die US-amerikanischen und internationalen Aktienmärkte haben im ersten Quartal 2024 eine Reihe von Rekordhöhen erreicht. Der April ist zwar weniger enthusiastisch gewesen, dies ist aber vor allem auf Inflationssorgen und zunehmende Spannungen im Nahen Osten zurückzuführen. Es ist klar, dass sich die Befürchtung, höhere Zinsen könnten die aktuelle Hausse beenden, sich nicht bewahrheitet hat.

Eine Markterholung nach einer Zinserhöhung ist nicht ungewöhnlich. In den letzten 30 Jahren haben sich Aktien und Anleihen in der Regel gut entwickelt, wenn die Fed die Zinsen angehob. Zu Beginn einer Zinserhöhungskampagne können die Märkte zwar heftig reagieren. Sobald jedoch ein neues Stabilitätsniveau erreicht ist, das sich in einem vernünftigen Rahmen bewegt, würden die Märkte ihren langfristigen Wachstumspfad häufig wieder aufnehmen, welcher mehr von den Unternehmensgewinnen und dem Wirtschaftswachstum als von der Geldpolitik beeinflusst wird.

Fazit:

Als Anleger müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Politik der Fed in Anbetracht des jüngsten gesunden US-Wachstums vielleicht gar nicht restriktiv ist. Vielleicht ist das der Grund, warum wir noch keine Rezession hatten. Und vielleicht ist das der Grund, warum wir 2024 keine Zinssenkung bekommen werden. Das Ausbleiben einer Zinssenkung in diesem Jahr könnte einfach die Tatsache widerspiegeln, dass es der US-Wirtschaft recht gut geht. Für Anleger, die bereit sind, eine langfristige Perspektive einzunehmen, könnte dies ein hervorragender Zeitpunkt sein, um sowohl in Aktien als auch in kreditorientierten Anleihen investiert zu sein.