Der Momentumeffekt beschreibt das recht simple Phänomen, dass Aktien, die in der Vergangenheit gestiegen sind, weiter steigen. Beziehungsweise: Aktien im Abwärtstrend neigen dazu, vorerst auch weiter zu fallen. Sie weisen ein negatives Momentum auf. Der Momentumeffekt kann unterschiedliche Zeiträume umfassen. In der Regel werden Bemessungszeiträume von sechs bis zwölf Monaten genutzt. Gemessen wird Momentum mittels verschiedener Kennzahlen.

Populär in Anlegerkreisen ist u.a. die sogenannte „Relative Stärke nach Levy“, kurz RSL. Sie berechnet sich aus dem Abstand des Kurses von der 27-Wochen-Linie. In der akademischen Forschung wird hingegen mit der absoluten Performance über sechs oder 12 Monate gerechnet. Weitere Konzepte basieren im Wesentlichen auf den beiden genannten Herangehensweisen.

Doch wie entsteht Momentum? Klar ist: Wenn Aktien (oder andere Anlageklassen) gerade „einen Lauf“ haben, hat dies – neben der fundamentalen Betrachtung - viel mit der Psyche der Anleger zu tun. Aus diesem Grund wurde in der Verhaltensökonomik, welche sich mit dem menschlichen Verhalten in wirtschaftlichen Situationen beschäftigt, viel zum Thema Momentum geforscht. Sie bietet zwei verschiedene Theorien an. Demnach entsteht Momentum zum einen aufgrund einer Unterreaktion, zum anderen aufgrund einer Überreaktion von Marktteilnehmern auf Nachrichten und andere verfügbare Informationen.

Von Unterreaktionen spricht man, wenn der Kurs nur sehr langsam auf neue Informationen reagiert und dadurch eine Periode kontinuierlich steigender oder fallender Kurse entsteht. Überreaktionen werden dagegen oft durch eine Reihe positiver oder negativer Informationen hervorgerufen. Nach einer möglichen anfänglichen Unterreaktion überreagieren die Marktteilnehmer. Euphorie oder Pessimismus verursachen Kurstrends, welche sich rational betrachtet nicht mehr rechtfertigen lassen.

Wissenschaftlich wird eine Unterreaktion mit drei Effekten erklärt: Dem Dispositionseffekt, dem Konservatismus- und dem Ankereffekt. Der Dispositionseffekt beschreibt das Phänomen, dass Investoren profitable Investitionen zu früh verkaufen und verlusttragende Investitionen zu lange halten. Positive Neuigkeiten führen somit zu verfrühten Veräußerungen, weitere schnelle Kursanstiege werden verhindert.

Investoren begründen ihren Verkaufsimpuls oft damit, dass sie ihre erzielten Gewinne vereinnahmen möchten. Die Folge ist, dass sich neue positive Informationen erst verspätet vollständig in den Kursen widerspiegeln. Ganz anders verhält es sich bei negativen Neuigkeiten. Sie führen häufig zu verspäteten Verkäufen, sodass sich der Kursverfall in die Länge zieht. Oftmals verhindern die Hoffnung auf wieder bessere Zeiten oder ein verspätetes Eingeständnis, mit der Investitionseinschätzung falsch gelegen zu haben, den raschen Verkauf.

In Summe bedeutet dies: Stark positive oder negative Informationen spiegeln sich durch das Verhalten der Investoren im Kursverlauf weniger stark wider, als dies fundamental gerechtfertigt wäre. Es kommt zu einer Glättung des Kursverlaufs, Momentum entwickelt sich. Verstärkt wird diese Entwicklung zum einem durch den Konservatismuseffekt. Er beschreibt das psychologische Phänomen, dass Kapitalmarktteilnehmer aufgrund mangelnder geistiger Flexibilität neue Informationen erst langsam verarbeiten und ihre Einschätzung zu einem Unternehmen zu langsam anpassen. Zum anderen werden bestehenden Informationen eine höhere Relevanz beigemessen als neuen. Dies ist der sogenannte Ankereffekt.

Eine Überreaktion wird häufig durch das berühmte Herdenverhalten verursacht. Dieses beschreibt die Veranlagung vieler Menschen, sich in ihren Entscheidungen an großen Gruppen zu orientieren. Erleidet zum Beispiel ein Fondsmanager mit einem Investment, das auch viele seiner Kollegen eingegangen sind, Schiffbruch, so wird dies weit weniger kritisch gesehen, als wenn er alleine auf dieses „Pferd“ gesetzt hätte. Deshalb kaufen selbst Profiinvestoren gerne Aktien, die auch bei anderen im Portfolio liegen. Bei Privatanlegern trägt die Mundpropaganda zu einem „heißen Tipp“ dazu bei, dass die Herde wächst und die Kurse weiter steigen.

Neben den genannten Faktoren gibt es weitere, die Momentum entstehen lassen. Dazu gehört der sogenannte Repräsentativitätshang. Er beschreibt das Phänomen, dass Anleger die erwartete Kursentwicklung eines Investments tendenziell an der vergangenen Performance festmachen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Investment die Entwicklung der Vergangenheit fortsetzt, wird von ihnen höher eingeschätzt, als eine veränderte Kursentwicklung. Infolgedessen braucht es wiederholt negative Informationen, bis die Anleger das Ende einer einstmals attraktiven Investmentstory mit starkem Momentum realisieren. Ähnlich ist es bei Turnaround-Situationen, bei welchen die vorangegangen Quartale mit einer sehr schlechten Aktienperfomance noch zu präsent sind und ein Trendwechsel als unwahrscheinlicher angesehen wird als eine Fortsetzung.

Schließlich gibt es noch die Selbstüberschätzung: Investoren glauben tendenziell, besonders gute Informationen zu haben. Eine erfolgreiche Investition wird dem eigenen Können und dem erfolgreichen Ausnutzen hochwertiger Informationen zugeschrieben. Verluste sind in der Wahrnehmung der Investoren dagegen eher dem Pech geschuldet.

Neben den verhaltensökonomischen Erklärungen für den Momentumeffekt gibt es rationale. Diese greifen häufig auf die generelle Organisation der Märkte zurück. Demnach benötige es in der Regel Zeit, neue Informationen zu verarbeiten. Professionelle Investoren müssten priorisieren und könnten neue Informationen nur Schritt für Schritt verarbeiten. Zudem erfordern neue Investments sorgfältige Analysen, die ebenfalls Zeit benötigen. Und: Große Investitionen können oft nicht als Ganzes getätigt werden, ohne den Kurs deutlich in die ein oder andere Richtung zu treiben. Deshalb sind global agierende Investmenthäuser häufig gezwungen, ihre Portfoliopositionen teilweise über mehrere Wochen hinweg auf- oder abzubauen.

Bei Aktien ist der Momentumeffekt bei kleineren Werten ausgeprägter, welche von weniger Analysten und Kommentatoren verfolgt werden. Auch ist ein höherer Anteil an nicht-professionellen Investoren förderlich für den Momentumeffekt.

Der alten Börsenweisheit „The trend is your friend“ liegen also gut erforschte Verhaltensmuster und rationale Erklärungen zugrunde. Reflektiert handelnden Investoren können sich diese zunutze machen. Hierbei ist nicht nur die Identifikation von bspw. einzelnen Aktien eine Option, sondern auch die Auswahl von Branchen-, Themen- oder Stil-ETFs möglich. Bei Huber, Reuss und Kollegen werten wir zweimal im Monat diesbezüglich den US-amerikanischen und die europäischen Märkte aus, um rechtzeitig auf neue Entwicklungen aufmerksam zu werden. Denn: Um möglichst gut vom Momentumeffekt zu profitieren, heißt es, frische Trends frühzeitig zu erkennen. 

Aus dem Börse Express-PDF vom 22. Oktober - hier zum kostenlosen Download

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