Angesichts rasant steigender Corona-Neuinfektionen in Deutschland wächst unter Volkswirten die Sorge vor den möglichen ökonomischen Folgen einer zweiten Pandemie-Welle. "Der konjunkturelle Aufschwung dürfte bis zum Frühjahr weitgehend zum Erliegen kommen", sagte die Chefvolkswirtin der staatlichen KfW Bankengruppe, Fritzi Köhler-Geib. "Dadurch dürfte auch die Arbeitslosigkeit in den kommenden Monaten stagnieren oder - wenn es schlecht läuft - deutlich zunehmen."

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier nannte die Infektionslage "dramatisch", warnte jedoch erneut vor einem Herunterfahren der Wirtschaft. "Einen neuen flächendeckenden Lockdown darf es nicht geben, und ich halte ihn auch nicht für erforderlich", sagte der CDU-Politiker den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Finanzminister Olaf Scholz hält Deutschland für finanziell gut gerüstet. "Die Corona-Pandemie ist längst noch nicht besiegt, und wie erwartet verzeichnen wir jetzt im Herbst deutlich steigende Infektionszahlen", sagte der SPD-Politiker der "Augsburger Allgemeinen" (Samstag). "Die Lage ist ernst, und wir nehmen sie ernst."

Die Gesundheitsämter in Deutschland haben innerhalb eines Tages nach Angaben des Robert Koch-Instituts vom Samstagmorgen 14 714 neue Corona-Infektionen gemeldet, so viele wie noch nie seit Beginn der Pandemie. Da es allerdings am Donnerstag zeitweise zu Datenlücken bei der Übermittlung von Infektionszahlen gekommen war, könnten in der jüngsten Zahl der Neuinfektionen Nachmeldungen enthalten sein.

Aus Sicht von KfW-Chefvolkswirtin Köhler-Geib bleiben die Beschäftigungsrisiken gerade in kundennahen Wirtschaftsbereichen hoch. Besonders für das Hotel- und Gaststättengewerbe sowie Teile des Einzelhandels und der Kulturwirtschaft würden die Herbst- und Wintermonate noch einmal zur Belastungsprobe. Eine Ansicht, die auch Marc Schattenberg, Volkswirt bei der Deutschen Bank, teilt: "Die Situation ist belastend, besonders für den Dienstleistungssektor."

Für das vierte Quartal gebe es Abwärtsrisiken, die sich auch in das neue Jahr hineinziehen könnten, sagte Schattenberg. Auch bei der Allianz-Gruppe hieß es, die Risiken nach unten überwögen. Leider dürfte es schon ab Herbst wieder ungemütlicher für die deutsche Wirtschaft werden, sagte Allianz-Expertin Katharina Utermöhl. Das Auslaufen stützender Nachholeffekte werde unmissverständlich deutlich machen, dass die derzeitige Konjunkturerholung kein Selbstläufer sei.

Altmaier betonte, "die positiven Konjunkturannahmen, die wir für das Jahr 2021 gemacht haben - also ein substanzielles Wachstum in der Größenordnung von mindestens vier Prozent - stehen natürlich unter dem Vorbehalt, dass es uns gelingt, die hohen Infektionszahlen wieder zu senken". Für 2020 indes könne man davon ausgehen, dass die Entwicklung weitgehend so eintrete, wie sie prognostiziert worden sei. Für das kommende Jahr hatte die Bundesregierung ein Wirtschaftswachstum von 4,4 Prozent vorausgesagt, für das laufende einen Konjunktureinbruch von 5,8 Prozent.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, befürchtet, dass die Risiken einer zweiten Welle unterschätzt werden. Es müsse dringend gelingen, den Bürgern den Ernst der Lage bewusst zu machen und sie zu deutlich mehr Vorsicht zu bringen. "Ein starker und anhaltender Anstieg der Infektionen könnte die Wirtschaft genauso hart treffen wie die erste Welle", sagte Fratzscher der "Augsburger Allgemeinen": "Die Wirtschaft ist heute viel weniger widerstandsfähig als noch im März und April."

Nach Meinung von FDP-Bundestagsfraktionsvize Christian Dürr zeigt sich, wie wirkungslos das Konjunkturpaket der Koalition gewesen sei. Die Mehrwertsteuersenkung sei teuer und verpuffe ohne erkennbaren Erfolg: "Wir brauchen jetzt schleunigst ein Signal für dauerhafte Entlastungen, damit Unternehmen mit so viel Zuversicht wie möglich wirtschaften und investieren können."/dm/sl/DP/fba

AXC0052 2020-10-24/13:24

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