Vielen vom Schienenverkehr abgehängten Regionen dürfte diese Deutschlandkarte Hoffnung machen: Zwei Verkehrsverbände haben darauf die 186 stillgelegten Schienenabschnitte eingezeichnet, die aus ihrer Sicht wieder in Betrieb gehen sollten. Zusammen sind das bundesweit mehr als 3000 Kilometer Gleise, die den gebeutelten Personennahverkehr der Bahn verbessern könnten, wenn sie wieder befahrbar wären. Das behaupten der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und Allianz pro Schiene, die am Montag ihre Ergebnisse in Berlin vorgestellt haben.

Es gebe zahlreiche Lücken im deutschen Schienennetz - manche einen, andere mehrere Dutzend Kilometer lang. Nicht alle ehemaligen Schienenwege ließen sich wieder in Betrieb nehmen, viele aber schon, und zwar ohne allzu großen Aufwand. Die meisten davon sind für den Personenverkehr gedacht. Aber auch Güterverkehrsstrecken sind dabei.

Nicht mehr genutzte Bahnstrecken wieder in Betrieb zu nehmen, könnte ein Schritt zur Umsetzung des Projekts "Deutschlandtakt" sein, mit dem das Bundesverkehrsministerium die Schiene stärken will. Das Zugfahren soll so pünktlicher und schneller werden, das Erreichen der Anschlüsse direkter und verlässlicher. Steigende Fahrgastzahlen und immer neue Passagierrekorde bringen das System an seine Grenzen. 3000 neue Kilometer würden das gesamte deutsche Schienennetz um rund acht Prozent aufstocken, wie der VDV berechnet hat.

Zwischen 1994 und 2019 sind laut Allianz pro Schiene bereits gut 800 Kilometer für den Personen- und fast 400 Kilometer für den Güterverkehr wieder in Betrieb gegangen, nachdem sie einmal aus dem Netz entfernt worden waren. Laut VDV wurden bei der großen Mehrheit "die mit der Reaktivierung beabsichtigten Verlagerungseffekte übererfüllt". Aber: Im gleichen Zeitraum wurde deutlich mehr Strecke

- rund 3600 Kilometer - stillgelegt.

Stillgelegt kann viel bedeuten: Auf einigen Strecken liegen noch die Schienen, es wuchert nur etwas Unkraut, manchmal fahren dort sogar noch Güterzüge. Andere ehemalige Bahnstrecken haben nicht mal mehr Reste von Schienen, sondern sind inzwischen zu Radwegen umgebaut. "Der Vorteil von Streckenreaktivierungen ist, dass sie deutlich schneller die Bahn wieder zurück zu den Menschen bringen können und auch zu den Unternehmen, als dies beim Neubau der Fall ist", sagte Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene.

Wie viel von einem Schienenweg noch übrig sei, entscheide darüber, wie schnell und kostengünstig er sich wieder in Betrieb nehmen lasse, sagte Frank Zerban, Hauptgeschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Aufgabenträger des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV). Und was heißt schnell? Bei solchen Bauprojekten wäre ein Jahr sehr schnell. Je nachdem, was von den Schienen, Verkehrssignalen und Bahnhöfen einer Strecke noch übrig ist, kann es aber auch mal fünf bis zehn Jahre dauern.

Viele der zur Wiederinbetriebnahme empfohlenen Strecken sind kleine Verbindungsstücke, die eine Lücke in einer langen Regionalstrecke schließen würden. Zerban hält Reaktivierungen, dort wo es das Potenzial gebe, für "ausgesprochen sinnvoll".

Zwar helfe so eine frische Übersicht potenzieller Wiedereröffnungen, aber: "Man muss unterscheiden zwischen Potenzial und Wirtschaftlichkeit." Und viele alte Strecken könnten diese nötige Wirtschaftlichkeit seiner Erfahrung nach nicht erreichen. "Dann ist es üblicherweise so, dass aus einem relativ großen Portfolio an potenziell interessanten Strecken eine am Ende doch dann eher überschaubare Zahl übrig bleibt."

Und was kostet der Spaß? "Da halten wir uns zurück", sagte VDV-Präsident Ingo Wortmann. Schätzungen seien in diesem Fall unseriös, weil der Aufwand so unterschiedlich sei. Weniger zurückhaltend antworten die Verbände auf die Frage, wer das finanzieren soll: "Wir fordern ein Bundesprogramm Reaktivierung, bei dem der Bund 100 Prozent der Infrastrukturkosten der reaktivierten Strecken trägt", sagte Flege. Denn die meisten der ausgedienten Strecken seien vorher Bundesschienenwege gewesen. "Deswegen ist es jetzt auch Aufgabe des Bundes, diese Fehler der Vergangenheit zu korrigieren." Die Planung sollten die Länder übernehmen.

Gegen den Vorwurf wehrt sich das Verkehrsministerium und teilt auf Anfrage mit, dass Strecken immer nur dann stillgelegt worden seien, wenn es keine Nachfrage mehr gegeben habe und wenn kein Dritter - etwa ein privater Betreiber - die Strecke habe übernehmen wollen. Außerdem stelle der Bund bereits ausreichend Mittel für den SPNV zur Verfügung - zwischen 2016 und 2031 mehr als 150 Milliarden Euro.

Auch die Deutsche Bahn erklärt auf Anfrage, dass mangelnde Nachfrage über eine Stilllegung entscheide. Das bedeute aber auch: "Wenn Leistungen in einem Umfang bestellt werden, die dem Infrastrukturbetreiber einen wirtschaftlichen Betrieb ermöglichen, kann durchaus eine Reaktivierung in Erwägung gezogen werden", heißt es in dem Statement. Und: "Es ist unstrittig, dass wir mehr Kapazitäten brauchen, um die Verkehre von heute und morgen zu bewältigen."/juc/DP/jha

AXC0187 2019-05-20/15:14

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