Versetzen Sie sich 200 Jahre zurück. Als die Dampfmaschine ihren Siegeszug begann, waren die Reaktionen der Menschen überwiegend negativ. Den meisten waren die neuen Maschinen unheimlich. Sie hatten Angst vor Unfällen. Sie fürchteten den Verlust ihrer Arbeitsplätze und eine weitere Verarmung. 1844 kam es zu dem berühmten Weberaufstand in Schlesien. Die positiven Wirkungen auf den Wohlstand und das Wachstum, die später eintraten, konnte sich keiner vorstellen. Heute sind wir froh, dass es die Dampfmaschine gegeben hat (wenn sie auch etwas sozial verträglicher hätte eingeführt werden können).

Bei allen großen wirtschaftlichen und technischen Umwälzungen, die wir seitdem erlebt haben, war das Muster ähnlich. Zuerst schroffe Ablehnung, dann zum Teil schmerzhafte Umstrukturierungen, am Ende ein Wohlstandsgewinn, den niemand mehr missen möchte.

Jetzt passiert dasselbe mit Libra. Nun will ich das neue Kunstgeld, das Facebook dieser Tage vorgestellt hat, in seiner Bedeutung nicht mit der Dampfmaschine vergleichen. Es ist bei weitem nicht so grundlegend. Es ist aber doch bemerkenswert, dass die meisten Kommentare auch hier negativ sind. Facebook werde noch unkontrollierbarer. Der Schutz der persönlichen Daten sei gefährdet. Geldwäsche und „dark economy“ würden gefördert. Die Geldpolitik der Zentralbanken werde unterlaufen. Die Stabilität des internationalen Finanzsystems sei gefährdet. 

Alle scheinen sich, bevor sie sich näher mit Libra befasst haben, einig zu sein, dass das neue Geld schleunigst reguliert werden müsste. Facebook dürfe damit nicht an den Markt gehen, bevor nicht gegen alle Eventualitäten Vorsorge geleistet wurde. Wenn wir das mit der Dampfmaschine so gemacht hätten, hätten wir sie vielleicht heute noch nicht.

Angesichts des vielfältigen Widerstands gegen Libra hier einmal ein Plädoyer dafür. Um was geht es? Libra ist ein Kunstgeld, das den Zahlungsverkehr vor allem mit dem Ausland erleichtern soll. Dieser ist bisher sehr teuer und zeitaufwändig. Man rechnet mit Gebühren von 7% und einer Bearbeitungszeit von 3 – 4 Tagen. Das liegt daran, dass nicht nur verschiedene Banken involviert sind, sondern meist auch noch das Telekommunikationsnetzwerk Swift. Besonders kostspielig sind Überweisungen in Entwicklungsländer (zum Beispiel von Gastarbeitern im Ausland). Manche Banken warten mit der Überweisung, bis eine bestimmte Anzahl von Aufträgen zusammenkommt, um sie dann gebündelt auszuführen.

Mit Libras wird das alles viel einfacher. Wer überweisen will, kauft mit seinem nationalen Geld die neue Kunstwährung. Diese kann er mit einem Click über sein Facebook Account an den Empfänger schicken. Das Ganze kostet so viel wie eine SMS und wird in Sekunden abgewickelt. Der Empfänger kann die Libras behalten und sie, wenn das in seinem Land möglich ist, hier verwenden. Er kann sie aber auch als Reserve halten. Dafür gibt es spezielle Wallets (Brieftaschen), die aber nicht verzinst werden. Er kann sie aber auch in seine nationale Währung tauschen und hat dann Geld wie jedes andere.

Das Ganze ist wie eine Autobahn für den Zahlungsverkehr. Wer kann da schon konkurrieren?

Vor allem in Entwicklungsländern sind Libras unschlagbar. Viele haben dort zwar ein Handy, aber kein Bankkonto. Auslandszahlungsverkehr spielt eine große Rolle wegen der Gastarbeiter im Ausland, die ihr Einkommen an ihre Familien überweisen. Nach Schätzungen von Facebook gibt es in der Dritten Welt über 2 Mrd. potenzielle Nutzer für Libras. Das ist ein immenser Markt, der erschlossen werden kann. 

Abgewickelt werden Libra-Überweisung über die Blockchain-Technologie. Sie ist sicherer als normale Überweisungen, weil in den „Blöcken“ die gesamte Historie der Zahlungen für alle Teilnehmer dokumentiert ist. Wer eine Transaktion manipulieren will, fällt auf, weil das ganze System in Unordnung gerät.

Manche haben Bedenken wegen der Ähnlichkeit zu Bitcoin und anderen Kunstwährungen. Libra ist aber etwas ganz anderes. Es gibt hier nicht die riesigen Wertschwankungen wie bei Bitcoins. Libras sind relativ stabil. Sie sind vollständig gedeckt durch einen Korb von Staatsanleihen und Bankeinlagen in den großen Währungen der Welt („stablecoins“). Wer Libras kauft, erwirbt ein Stück dieses Währungskorbes. Natürlich gibt es auch hier Schwankungen, wenn sich die Zinsen und Devisenkurse bewegen. Sie sind jedoch viel geringer als die zwischen nationalen Währungen, die sonst beim Auslandszahlungsverkehr anfallen.

Ein großer Nachteil der Bitcoins ist auch die Affinität zu ungesetzlichen oder verbrecherischen Geschäften. Die Organisatoren von Libra versuchen dies auszuschalten, indem sie sich mit großen und renommierten Anbietern im Zahlungsverkehr wie Visa, Mastercard oder Paypall zusammengetan haben. Bei der Eröffnung von Wallets für Libras sollen die gleichen Betrugsbekämpfungsverfahren und Überprüfungen angewandt werden wie bei Banken. Eine Einlagensicherung, wie sie bei Banken existiert, gibt es bei Libras allerdings nicht. 

Für den Anleger: Mit einer endgültigen Bewertung von Libra muss man derzeit vorsichtig sein. Noch sind zu viele Fragen offen. Es muss auch viel reguliert werden. Vieles sind Versprechungen von Facebook, die erst eingelöst werden müssen. Generell aber sollte man nicht zu skeptisch sein. Innovationen sind für Volkswirtschaften und Kapitalmärkte etwas Gutes. Da gibt es Chancen, Geld zu verdienen. Verlierer sind die Banken, die wegen der niedrigen Zinsen und der hohen Regulierung schon jetzt in Schwierigkeiten sind (Grafik). Ihnen entgeht mit dem Zahlungsverkehr nicht nur eine wichtige Ertragsquelle. Sie verlieren auch einen bedeutsamen Zugang zu den Kunden für andere Geschäfte.