BÖRSE EXPRESS: Der Raiffeisen-Europa-Aktien ist ein Value-Fonds. Wieso glauben Sie, dass das derzeitige Umfeld für eine Value-Strategie spricht?

HERBERT PERUS: Der wertorientierte Ansatz hat sich in der Vergangenheit bei einem Anstieg der Zinsen am meisten bewährt. Aufgrund der wirtschaftlich sehr guten Entwicklung sind wir in Amerika schon so weit, dass die Zinsen wieder steigen, und Europa könnte schon bald folgen. In den USA sind die Bewertungen von Aktien generell schon fortgeschritten, jedoch gibt es dort aufgrund der schier unendlichen Anzahl von liquiden Einzeltiteln immer wieder lohnende Einstiegsmöglichkeiten. Mehr Chancen sehen wir in Europa: Hier sind die Bewertungen generell noch tiefer und wir finden viele Unternehmen, deren Wert höher ist, als der Preis an den Börsen.

Worauf liegt der Fokus eines Value-Investors - im Gegensatz zum Growth-Investor?

Für uns ist das Gegenteil von Value nicht Growth. Es gibt auch viele Aktien aus den sogenannten Wachstumsbranchen wie beispielsweise dem Technologiesektor, die aus unserer Sicht Value-Kriterien entsprechen, also deren Wert höher ist, als der aktuelle Preis. Wir sehen als konträren Investmentstil zu unserer Philosophie eher Momentum-Strategien, die nur auf die Preisentwicklung abzielen, oder Investitionen in sogenannte ‘Glamour-Stocks’, modische Aktien mit hoher Bewertung, hohen Börsenumsätzen und einer hohen Anzahl an Kaufempfehlungen.

Einige Experten befürchten, dass europäische Aktien ihren Zenit bereits überschritten haben. Was spricht dagegen bzw. welche Branchen haben noch Nachholbedarf?

Wir bewerten generell keine gesamten Märkte oder Branchen, sondern sehen uns Unternehmen für Unternehmen genau an. Verstehen wir das Geschäft einer Gesellschaft, kennen wir die Produkte, ist uns das Management bekannt, ist die Strategie nachvollziehbar und stabil, sind die Bilanzen sauber und ist dann noch der aktuelle Preis mit einer gewissen Sicherheitsmarge unter dem von uns kalkulierten Wert, dann investieren wir. Ansonsten nicht. Weil wir bei der Portfoliokonstruktion eher gleichgewichten, kann man aus dem aktuellen Portfolio gut erkennen, in welchen Sektoren und Märkten wir die größten Chancen sehen. Das sind im Moment der Energie- und Industriesektor.

Da viele Experten weiterhin sehr vorsichtig sind, was die Marktentwicklung betrifft, sehen wir gerade für die europäischen Aktienmärkte noch einiges Potenzial. Bei euphorischer Stimmung sollte man vorsichtig sein, aus unserer Sicht sind wir aber noch lange nicht an diesem Punkt. Die Euphorie muss noch kommen.

Wie gehen Sie bei der Suche nach unterbewerteten Aktien detailliert vor bzw. welche Kennzahlen spielen dabei die größte Rolle?

Die Ideengenerierung ist von Fondsmanager zu Fondsmanager verschieden. Doch grundsätzlich starten wir nach einer Vorauswahl mit der Analyse von Titeln. Dabei sehen wir uns die Kursentwicklung der vergangenen drei Jahre und die Empfehlungen von Analysten an. Waren die Kurse schwach und die Empfehlungen auf der Verkaufsseite, wird die Aktie für uns interessant. Dann starten wir mit unseren Analyseprozessen, bei denen die Fondsmanager direkt von den Analysten in unserer Abteilung unterstützt werden. Auch hier gibt es eine klare Zuständigkeit nach Sektoren. Die Bewertung eines Unternehmens ist dann Handwerk mit dem klassischen Rüstzeug eines wertorientierten Investors, das uns der Erfinder dieser Philosophie, Benjamin Graham, in die Hand gegeben hat. Damit schätzen wir beispielsweise den Zerschlagungswert oder den Gründungswert eines Unternehmens. Sehr wichtig dabei ist, dass wir keinerlei Prognosen verwenden, sondern ausschließlich kommunizierte Daten. Prognosen sagen aus unserer Sicht nichts über die Zukunft aus, sondern geben nur Informationen über den Prognostiker. Liegt der Mittelwert der Wertmethoden ca. 25 Prozent (die sogenannte ‘margin of safety’) unter dem aktuellen Börsenkurs, versuchen wir das Unternehmen sehr gut kennenzulernen. Für uns als Investoren liegt das höchste Risiko nämlich nicht in Kursschwankungen oder ähnlichem, sondern darin, in eine Aktie zu investieren, die wir nicht kennen, wie es beispielsweise passive oder quantitative Investoren tun.

Was sind Entscheidungskriterien für einen Switch bzw. einen Verkauf einer Aktie?

Wir investieren mit einer gewissen Sicherheitsmarge vom Unterschied zwischen Preis und Wert. Erreicht der Börsenkurs den von uns geschätzten Wert, trennen wir uns von der Position. Durchschnittlich halten wir dadurch eine Aktie mehr als vier Jahre im Portfolio. Das ist weit über dem Industrieschnitt, der aktuell bei einer durchschnittlichen Behaltedauer von sieben Monaten pro Position liegt. Das wäre für uns eher Spekulation oder Trading, kein Investieren. Als Beispiel für einen Aktientausch könnte man den Verkauf von GlaxoSmithKline im Sommer 2017 (erreichen des geschätzten Werts von 17 Pfund pro Aktie) und den fast gleichzeitigen Kauf von Shire (zufällig auch aus dem britischen Pharmasektor) bei 37 Pfund (geschätzter Wert bei 52 Pfund) nennen.

Fast zehn Prozent des Fonds-Portfolios sind in österreichischen Aktien investiert, Wienerberger gehört zu Ihren Top-Holdings. Was überzeugt Sie nach wie vor vom heimischen Markt und vom Unternehmen?

Aufgrund unseres Standortes und unserer sehr guten Expertise sehen wir uns als Experte für den österreichischen Aktienmarkt. Da kennen wir die Unternehmen nicht nur sehr gut, sondern wir kennen sie nahezu in- und auswendig. Der Gesamtmarkt ist deutlich günstiger als die meisten europäischen Märkte bewertet. Außerdem profitieren viele österreichische Unternehmen vom Engagement in Osteuropa: Dort wächst die Wirtschaft noch stärker als in Westeuropa, was sich auch auf ein stärkeres Gewinnwachstum auswirken kann. Beispielsweise ist Wienerberger Weltmarktführer bei Ziegeln, zu 100% an der Börse gelistet und somit ein idealer Übernahmekandidat. Obwohl wir schon lange in dem Unternehmen investiert sind, sehen wir noch enormes Kurspotenzial.

Finanztitel bilden derzeit den Schwerpunkt, Royal Dutch Shell ist die größte Position in ihrem Portfolio. Welches Potenzial sehen Sie in den Branchen Finanzen und Energie?

In der Finanzbranche haben wir erst vor relativ kurzer Zeit einige Positionen hinzugefügt, da für uns die Bewertung von vielen Banken aufgrund der undurchsichtigen Bilanzstrukturen sehr schwierig und zeitraubend war. Ein Anstieg der Zinsen sollte sich sehr positiv auf die Ertragsentwicklung auswirken, wir sehen auch durch eine mögliche Abnahme von Regulatorien (wie in den USA vorexerziert) viel Potenzial. Viele Börsenkurse von Unternehmen aus dem Ölbereich haben die möglichen Ertragszuwächse aus dem gestiegenen Ölpreis noch nicht verarbeitet, das müsste aus unserer Sicht noch kommen. Bei Royal Dutch kommt noch die stabile Dividende und das hervorragende Managementteam hinzu.