(neu: Russische Reaktion ergänzt.)

MADRID (dpa-AFX) - Mit massiver Aufrüstung im Osten und einer Erweiterung nach Norden reagiert die Nato auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die 30 Mitgliedstaaten beschlossen am Mittwoch auf ihrem Gipfel in Madrid, die Zahl der Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft von 40 000 auf 300 000 zu erhöhen. Außerdem werden mehr schwere Waffen vor allem ins Baltikum und nach Polen verlegt. Nach wochenlanger Blockade der Türkei entschieden sie auch, Finnland und Schweden als neue Mitglieder aufzunehmen. Damit wird sich die Grenze des Bündnisses zu Russland um mehr als 1300 Kilometer verlängern.

Im neuen strategischen Konzept der Nato wird Russland als "größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum" bezeichnet. China wird als Herausforderung eingestuft. Der Ukraine sagten die 30 Staaten weitere Unterstützung für ihren schon 126 Tage andauernden Kampf gegen Russland zu.

"Der Krieg von Präsident Putin gegen die Ukraine hat den Frieden in Europa erschüttert und die größte Sicherheitskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. "Die Nato hat mit Stärke und Einigkeit reagiert." Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von "Weichenstellungen, die für die Sicherheit Europas, für die Sicherheit aber auch der Welt von großer Bedeutung sind".

Bundeswehr mit 15 000 Soldaten an Einsatzkräften beteiligt

Zu den mehr als 300 000 Einsatzkräften in hoher Bereitschaft will Deutschland mindestens eine Division beisteuern, also 15 000 Soldaten. Die Bundeswehr soll zudem eine Kampftruppen-Brigade mit 3000 bis 5000 Soldaten für Litauen führen. Die schnellen Eingreifkräfte sollen in Friedenszeiten in der Regel unter nationalem Kommando stehen, könnten dann aber im Ernstfall vom Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte in Europa (Saceur) angefordert werden. Sie sollen in 10 bis 50 Tagen bereit sein für eine Verlegung ins Einsatzgebiet.

Die USA sagten zu, ihre Truppenpräsenz in Europa weiter auszubauen. "Gemeinsam mit unseren Verbündeten werden wir dafür sorgen, dass die Nato in der Lage ist, Bedrohungen aus allen Richtungen und in allen Bereichen - zu Lande, in der Luft und auf See - zu begegnen", sagte US-Präsident Joe Biden. Russlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow drohte "Ausgleichsmaßnahmen" bei mehr US-Truppenpräsenz in Europa an.

Stoltenberg nennt Aufnahme Finnlands und Schwedens historisch

Als historisch bezeichnete Stoltenberg die Entscheidung, Finnland und Schweden in die Nato einzuladen. Bis die beiden tatsächlich Mitglieder der Allianz sind, dürfte es jedoch noch einige Monate dauern. Die Beitrittsprotokolle sollen nach derzeitiger Planung am kommenden Dienstag unterzeichnet werden. Danach müssen diese noch von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden.

Finnland und Schweden hatten unter dem Eindruck des russischen Kriegs gegen die Ukraine am 18. Mai die Mitgliedschaft in der Nato beantragt. Die Türkei blockierte jedoch wochenlang den Beitrittsprozess und begründete dies unter anderem mit der angeblichen Unterstützung Schwedens und Finnlands von "Terrororganisationen" wie der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, der syrischen Kurdenmiliz YPG und der Gülen-Bewegung - in Stockholm und Helsinki werden diese Vorwürfe zurückgewiesen.

Den Durchbruch brachte kurz vor Gipfelbeginn ein Treffen von Stoltenberg, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö. In einer Erklärung sichern die beiden nordischen Länder zu, auf mehrere Forderungen der Türkei einzugehen.

Moskau: Nato-Erweiterung "rein destabilisierender Faktor"

Russland sieht den angestrebten Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato "negativ". Das sagte Vize-Außenminister Sergej Rjabkow in Moskau der Nachrichtenagentur Interfax zufolge und betonte: "Wir betrachten die Erweiterung des nordatlantischen Bündnisses als einen rein destabilisierenden Faktor in den internationalen Angelegenheiten." Ein solcher Schritt bringe weder dem westlichen Militärbündnis noch den Beitrittskandidaten mehr Sicherheit.

Nato beklagt "feindselige Politik" Russlands

Mit dem neuen strategischen Konzept stellen die Nato-Partner ihre politischen und militärischen Planungen auf eine neue Grundlage. Es ersetzt die vorherige Version aus dem Jahr 2010. Damals hatten die Alliierten noch gehofft, dass die Zeit der großen Spannungen mit Russland vorbei sei, und auf eine "echte strategische Partnerschaft" mit dem Land gesetzt.

Im neuen Konzept heißt es nun: "Angesichts ihrer feindseligen Politik und Handlungen können wir die Russische Föderation nicht als unseren Partner betrachten." Die Beziehungen könnten sich erst dann wieder ändern, wenn Russland sein aggressives Verhalten einstelle und das Völkerrecht in vollem Umfang einhalte. Man bleibe jedoch bereit, die Kommunikationskanäle mit Moskau offen zu halten.

Selenskyj: Das wahre Ziel Russlands ist die Nato

Wie auch bei den Gipfeln der EU und der G7 wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video zum Nato-Gipfel zugeschaltet. Er warnte vor möglichen russischen Angriffen auch auf andere Länder. "Die Frage ist: Wer ist der nächste für Russland? Moldau? Das Baltikum? Oder Polen? Die Antwort: sie alle", sagte Selenskyj. Das wahre Ziel Russlands sei die Nato. Dazu setze Moskau als Instrument auch Hunger zur Verursachung von Migrationswellen ein.

Die Nato sagte der Ukraine sichere Kommunikationsmittel, Treibstoff, medizinische Versorgung, Schutzwesten und Ausrüstung zur Bekämpfung von Minen sowie chemischen und biologischen Bedrohungen. Auch Hunderte tragbare Drohnenabwehrsysteme sind Teil eines Unterstützungspakets./mfi/cn/wim/aha/ro/DP/men

AXC0380 2022-06-29/19:20

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